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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Noch einmal versammelte man sich auf dem Rathhaus. Hier wurde der
Abschieds-Trunk mit den üblichen Dankreden gehalten; dann schwangen wir
uns aufs Pferd und ritten zum Städtlein hinaus, wobei uns aus manchem
Fenster ein herzliches Lebewohl zugerufen oder mit weißem Tuche zugewinkt
wurde. --

Das war der Verlauf der im Jahr 1826 zum letzten Mal abgehaltenen
Hirtenzeche zu Mehlis. Sie war ein poetischer Rest mittelalterlicher Sitten
und Gebräuche, und da sie in die nüchterne Prosa des modernen Staatslebens
nicht mehr paßte, so wurde sie nach erfolgter Ablösung dem Zeitgeist zum
Leonhard Müller. Opfer gebracht.




Literatur.
Fürst Bismarck, der deutsche Reichskanzler. Ein Zeit- und Lebensbild
für das deutsche Volk von Fedor v. Koppen. Leipzig, Verlag von
Otto Spamer. 1876.

Das Leben unseres Reichskanzlers so zu schreiben, daß es der ersten und
wesentlichsten Anforderung, die wir an ein Geschichtswerk stellen, entspricht,
d. h. daß es uns die volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagt, wird
auch in späteren Jahren außerordentlich schwierig sein. Ja wir halten diese
Aufgabe geradezu für unmöglich, es wäre denn, daß der Fürst selbst Me¬
moiren hinterließe, die nur für ihn allein bestimmt waren und dann durch einen
Zufall in die Oeffentlichkett gelangten. Einen solchen Zufall aber könnte nur
der Geschichtsforscher als solcher ein Glück nennen, und überdieß denkt unseres
Wissens der Reichskanzler nicht daran, einen derartigen Schlüssel zu den Ge¬
heimnissen seiner Politik zu schaffen. Oeffnen sich einmal die Archive, so wird
immer ein Theil des dort aufbewahrten Materials verschlossen bleiben, und
selbst wenn dieß nicht der Fall wäre, würde Vieles und gerade das Wichtigste
unklar sein, da es eben nur für Eingeweihte geschrieben ist. Noch viel weniger
ist gegenwärtig an eine solche ideale Biographie zu denken. Was jetzt in
dieser Richtung geleistet wird, würde jener Hauptanforderung einzig und
allein dann zu entsprechen vermögen, wenn der Verfasser in allen Stücken
ein naher geistiger Verwandter des Reichskanzlers wäre und außerdem durch
Stellung und Bildung das ganze Aetionsgebiet, auf dem dessen große Kämpfe
und Erfolge sich bisher abspielten, mit klarem Blicke bis an seinen Horizont
zu überschauen im Stande wäre, wenn er alle in Betracht kommenden Ver¬
hältnisse und Persönlichkeiten genau kennte, und wenn er seine Kenntniß ohne


Noch einmal versammelte man sich auf dem Rathhaus. Hier wurde der
Abschieds-Trunk mit den üblichen Dankreden gehalten; dann schwangen wir
uns aufs Pferd und ritten zum Städtlein hinaus, wobei uns aus manchem
Fenster ein herzliches Lebewohl zugerufen oder mit weißem Tuche zugewinkt
wurde. —

Das war der Verlauf der im Jahr 1826 zum letzten Mal abgehaltenen
Hirtenzeche zu Mehlis. Sie war ein poetischer Rest mittelalterlicher Sitten
und Gebräuche, und da sie in die nüchterne Prosa des modernen Staatslebens
nicht mehr paßte, so wurde sie nach erfolgter Ablösung dem Zeitgeist zum
Leonhard Müller. Opfer gebracht.




Literatur.
Fürst Bismarck, der deutsche Reichskanzler. Ein Zeit- und Lebensbild
für das deutsche Volk von Fedor v. Koppen. Leipzig, Verlag von
Otto Spamer. 1876.

Das Leben unseres Reichskanzlers so zu schreiben, daß es der ersten und
wesentlichsten Anforderung, die wir an ein Geschichtswerk stellen, entspricht,
d. h. daß es uns die volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagt, wird
auch in späteren Jahren außerordentlich schwierig sein. Ja wir halten diese
Aufgabe geradezu für unmöglich, es wäre denn, daß der Fürst selbst Me¬
moiren hinterließe, die nur für ihn allein bestimmt waren und dann durch einen
Zufall in die Oeffentlichkett gelangten. Einen solchen Zufall aber könnte nur
der Geschichtsforscher als solcher ein Glück nennen, und überdieß denkt unseres
Wissens der Reichskanzler nicht daran, einen derartigen Schlüssel zu den Ge¬
heimnissen seiner Politik zu schaffen. Oeffnen sich einmal die Archive, so wird
immer ein Theil des dort aufbewahrten Materials verschlossen bleiben, und
selbst wenn dieß nicht der Fall wäre, würde Vieles und gerade das Wichtigste
unklar sein, da es eben nur für Eingeweihte geschrieben ist. Noch viel weniger
ist gegenwärtig an eine solche ideale Biographie zu denken. Was jetzt in
dieser Richtung geleistet wird, würde jener Hauptanforderung einzig und
allein dann zu entsprechen vermögen, wenn der Verfasser in allen Stücken
ein naher geistiger Verwandter des Reichskanzlers wäre und außerdem durch
Stellung und Bildung das ganze Aetionsgebiet, auf dem dessen große Kämpfe
und Erfolge sich bisher abspielten, mit klarem Blicke bis an seinen Horizont
zu überschauen im Stande wäre, wenn er alle in Betracht kommenden Ver¬
hältnisse und Persönlichkeiten genau kennte, und wenn er seine Kenntniß ohne


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/81>, abgerufen am 27.11.2024.