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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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rückten dann mit klingendem Spiele in die Stadt, umwogt von Tausenden,
von denen wenige sich der ungeheuren Schwere der Ereignisse bewußt waren,
deren Symptome sie sahen. Kurze Zeit später traf ein Jnsanteriebataillon
ein, empfangen wie das erste. So ging es fort, stundenlang, die ganze Nacht
hindurch. Es werden wenige Menschen in der Stadt geschlafen haben; wen
ließ die Aufregung dazu kommen? Das dumpfe Vorgefühl ungeheurer Kata¬
strophen beengte ja auch dem Gedankenlosen die Brust; und woher sollte dem
Hannoveraner Zuversicht kommen auf die Sache seines Staates, der den Krieg
um seine Existenz begann mit dem Rückzüge einer ungerüsteten Armee und
der über sein Gebiet in diesen selben Stunden die ersten Colonnen der Preußen
einrücken sah?

Das Erste, was ich am nächsten Morgen erfuhr, war die Ankunft des
Königs Georg und des Kronprinzen, von denen man noch am Abende vor¬
her erzählt hatte, sie seien nach England geflüchtet. Jetzt blieb kaum ein
Zweifel mehr daran, daß die hannöversche Armee beabsichtigte, sich um Göt¬
tingen zu concentriren. In der That rückte Bataillon auf Bataillon die
Weender Straße herauf in die Stadt ein, mit klingendem Spiele den König
saluttrend, der am Fenster der "Goldner Krone" sich zeigte. Es war herz¬
bewegend, wenn man diese prächtigen Scharen sah, diese hohen staatlichen
blonden Gestalten, unter den Offizieren wahre Musterbilder männlicher Schön¬
heit, und daran dachte, daß sie so eben im Begriffe standen, ihr Blut zu ver¬
gießen für eine doch durchaus verlorene Sache. Nirgends ist mir der Jammer
des Bürgerkrieges damals lebhafter vor die Seele getreten, als bei diesem An¬
blick. Dabei waren die Leute, trotz großer Strapatzen -- denn die meisten waren
Hals über Kopf abmarschirt oder abgefahren und halbe Tage lang ohne Er¬
quickung geblieben -- entschlossen, muthig und ernst; man hatte ihnen wohl
mit Absicht erzählt, die Preußen hätten in Hannover (das sie damals noch
gar nicht besetzt hatten!) die Waterloosäule, das schönste Denkmal hannöverisch-
deutschen Waffenruhmes zerstört; sie waren außer sich darüber und man
konnte sie sagen hören: "Lieber in den Tod als mit den Preußen!" Von
irgend welcher Zuversicht auf Erfolg war freilich nichts zu bemerken, um so
weniger, als bereits die bedenklichsten Nachrichten umliefen, Nachrichten aller¬
dings, die in diesem Augenblicke noch verfrüht waren, die aber wie Schatten
den kommenden Ereignissen voraus eilten: es hieß, die Festung Stade sei be¬
reits mit großen Vorräthen genommen*), Hessen-Cassel habe das preußische
Ultimatum acceptirt, ja Cassel selbst sei von den Preußen besetzt! War das
Letztere der Fall, so war die Stellung der Hannoveraner bei Göttingen un¬
haltbar, noch ehe es zum Schlagen kam, der Weg nach dem Süden versperrt.



') Das geschah erst am 18. Juni Morgens.

rückten dann mit klingendem Spiele in die Stadt, umwogt von Tausenden,
von denen wenige sich der ungeheuren Schwere der Ereignisse bewußt waren,
deren Symptome sie sahen. Kurze Zeit später traf ein Jnsanteriebataillon
ein, empfangen wie das erste. So ging es fort, stundenlang, die ganze Nacht
hindurch. Es werden wenige Menschen in der Stadt geschlafen haben; wen
ließ die Aufregung dazu kommen? Das dumpfe Vorgefühl ungeheurer Kata¬
strophen beengte ja auch dem Gedankenlosen die Brust; und woher sollte dem
Hannoveraner Zuversicht kommen auf die Sache seines Staates, der den Krieg
um seine Existenz begann mit dem Rückzüge einer ungerüsteten Armee und
der über sein Gebiet in diesen selben Stunden die ersten Colonnen der Preußen
einrücken sah?

Das Erste, was ich am nächsten Morgen erfuhr, war die Ankunft des
Königs Georg und des Kronprinzen, von denen man noch am Abende vor¬
her erzählt hatte, sie seien nach England geflüchtet. Jetzt blieb kaum ein
Zweifel mehr daran, daß die hannöversche Armee beabsichtigte, sich um Göt¬
tingen zu concentriren. In der That rückte Bataillon auf Bataillon die
Weender Straße herauf in die Stadt ein, mit klingendem Spiele den König
saluttrend, der am Fenster der „Goldner Krone" sich zeigte. Es war herz¬
bewegend, wenn man diese prächtigen Scharen sah, diese hohen staatlichen
blonden Gestalten, unter den Offizieren wahre Musterbilder männlicher Schön¬
heit, und daran dachte, daß sie so eben im Begriffe standen, ihr Blut zu ver¬
gießen für eine doch durchaus verlorene Sache. Nirgends ist mir der Jammer
des Bürgerkrieges damals lebhafter vor die Seele getreten, als bei diesem An¬
blick. Dabei waren die Leute, trotz großer Strapatzen — denn die meisten waren
Hals über Kopf abmarschirt oder abgefahren und halbe Tage lang ohne Er¬
quickung geblieben — entschlossen, muthig und ernst; man hatte ihnen wohl
mit Absicht erzählt, die Preußen hätten in Hannover (das sie damals noch
gar nicht besetzt hatten!) die Waterloosäule, das schönste Denkmal hannöverisch-
deutschen Waffenruhmes zerstört; sie waren außer sich darüber und man
konnte sie sagen hören: „Lieber in den Tod als mit den Preußen!" Von
irgend welcher Zuversicht auf Erfolg war freilich nichts zu bemerken, um so
weniger, als bereits die bedenklichsten Nachrichten umliefen, Nachrichten aller¬
dings, die in diesem Augenblicke noch verfrüht waren, die aber wie Schatten
den kommenden Ereignissen voraus eilten: es hieß, die Festung Stade sei be¬
reits mit großen Vorräthen genommen*), Hessen-Cassel habe das preußische
Ultimatum acceptirt, ja Cassel selbst sei von den Preußen besetzt! War das
Letztere der Fall, so war die Stellung der Hannoveraner bei Göttingen un¬
haltbar, noch ehe es zum Schlagen kam, der Weg nach dem Süden versperrt.



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[0480] rückten dann mit klingendem Spiele in die Stadt, umwogt von Tausenden, von denen wenige sich der ungeheuren Schwere der Ereignisse bewußt waren, deren Symptome sie sahen. Kurze Zeit später traf ein Jnsanteriebataillon ein, empfangen wie das erste. So ging es fort, stundenlang, die ganze Nacht hindurch. Es werden wenige Menschen in der Stadt geschlafen haben; wen ließ die Aufregung dazu kommen? Das dumpfe Vorgefühl ungeheurer Kata¬ strophen beengte ja auch dem Gedankenlosen die Brust; und woher sollte dem Hannoveraner Zuversicht kommen auf die Sache seines Staates, der den Krieg um seine Existenz begann mit dem Rückzüge einer ungerüsteten Armee und der über sein Gebiet in diesen selben Stunden die ersten Colonnen der Preußen einrücken sah? Das Erste, was ich am nächsten Morgen erfuhr, war die Ankunft des Königs Georg und des Kronprinzen, von denen man noch am Abende vor¬ her erzählt hatte, sie seien nach England geflüchtet. Jetzt blieb kaum ein Zweifel mehr daran, daß die hannöversche Armee beabsichtigte, sich um Göt¬ tingen zu concentriren. In der That rückte Bataillon auf Bataillon die Weender Straße herauf in die Stadt ein, mit klingendem Spiele den König saluttrend, der am Fenster der „Goldner Krone" sich zeigte. Es war herz¬ bewegend, wenn man diese prächtigen Scharen sah, diese hohen staatlichen blonden Gestalten, unter den Offizieren wahre Musterbilder männlicher Schön¬ heit, und daran dachte, daß sie so eben im Begriffe standen, ihr Blut zu ver¬ gießen für eine doch durchaus verlorene Sache. Nirgends ist mir der Jammer des Bürgerkrieges damals lebhafter vor die Seele getreten, als bei diesem An¬ blick. Dabei waren die Leute, trotz großer Strapatzen — denn die meisten waren Hals über Kopf abmarschirt oder abgefahren und halbe Tage lang ohne Er¬ quickung geblieben — entschlossen, muthig und ernst; man hatte ihnen wohl mit Absicht erzählt, die Preußen hätten in Hannover (das sie damals noch gar nicht besetzt hatten!) die Waterloosäule, das schönste Denkmal hannöverisch- deutschen Waffenruhmes zerstört; sie waren außer sich darüber und man konnte sie sagen hören: „Lieber in den Tod als mit den Preußen!" Von irgend welcher Zuversicht auf Erfolg war freilich nichts zu bemerken, um so weniger, als bereits die bedenklichsten Nachrichten umliefen, Nachrichten aller¬ dings, die in diesem Augenblicke noch verfrüht waren, die aber wie Schatten den kommenden Ereignissen voraus eilten: es hieß, die Festung Stade sei be¬ reits mit großen Vorräthen genommen*), Hessen-Cassel habe das preußische Ultimatum acceptirt, ja Cassel selbst sei von den Preußen besetzt! War das Letztere der Fall, so war die Stellung der Hannoveraner bei Göttingen un¬ haltbar, noch ehe es zum Schlagen kam, der Weg nach dem Süden versperrt. ') Das geschah erst am 18. Juni Morgens.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/480>, abgerufen am 27.11.2024.