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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Für mich selbst ergab sich aus dem plötzlichen Ausbruche des Krieges
die Nothwendigkeit, in meine schwer bedrohte sächsische Heimat zu eilen. Wie
das zu bewerkstelligen sei. blieb zunächst freilich im Dunklen. Da ich den
Uebertritt Kurhesseus zu Preußen als sicher annehmen mußte, entschloß ich
mich, über Cassel und Eisenach durch Thüringen zu reisen und dazu den Eil-
zug zu benutzen, der in dieser Richtung von Göttingen fahrplanmäßig um
3 Uhr Nachmittags abgehen sollte; alle Personenzüge hatte man schon einge¬
stellt. Aus dem Bahnhöfe herrschte kriegerisches Getümmel: Truppenzüge kamen
von Norden und gingen zum Theil nach Süden weiter der hessischen Grenze
zu; der Perron und alle Räume waren gedrängt voll Soldaten, Geschütze
und Munitionswagen standen in dichten Reihen aufgefahren. Eifrig wurden
die Ereignisse in einzelnen Gruppen discutirt, vor allem die Ablehnung des
preußischen Ultimatums durch den König Georg; die Offiziere verbargen nicht
ihre Befriedigung darüber, so bedenklich die Lage des Heeres auch war.
"Hätten wir nur wenigstens die Brigade Kalik hier behalten, dann wäre es
ein ander Ding," bemerkte einer der Herren zu einem Militärärzte, der ihm
eben erzählt hatte, wie er mit seinem Truppentheile fast 5 Stunden lang
auf dem Bahnhofe in Hannover habe warten müssen, bis Wagen zu beschaffen
gewesen seien, ein Beweis mehr, wie vollkommen unvorbereitet das Heer dem
Kriege entgegenging.

Mir bltek vollständig Muße, solche Beobachtungen anzustellen, denn die
Ankunft des erwarteten Eilzuges verzögerte sich von Viertelstunde zu Viertel¬
stunde, erst um ö Uhr fuhr er ab. Zu jeder anderen Zeit hätte das Auge
mit Wohlgefallen geruht auf dieser anmuthigen Hügellandschaft, die unter
den Strahlen der Junisonne sich behaglich zu beiden Seiten der Bahn aus¬
breitete; aber jetzt hingen die Wetterwolken eines schweren Krieges über ihr.
Aller Orten machte sich die Aufregung deutlich fühlbar, alle Stationen waren
gedrängt voll Menschen, die mit dem vorüberfahrenden Zuge Nachrichten aus
dem Norden zu erhalten hofften; in Münden schien die halbe Bevölkerung
auf dem Bahnhofe versammelt. Kurz vor 7 Uhr lief der Zug in Cassel ein.
Die Perrons wimmelten von Truppenabtheilungen in einer der preußi¬
schen zum Verwechseln ähnlichen Uniform; waren die Preußen schon in Cassel?
Aber die Vorbereitungen zur Abfahrt, die überall sichtbar waren, Kanonen
und Munitionswagen, die eben in die Wagen gebracht wurden, die unver¬
kennbare Unruhe und Hast, die Alles erfüllte, deuteten auf ganz Anderes
hin, und bald erfuhr ich denn auch: Der Kurfürst habe das preußische Ulti¬
matum verworfen, sei selbst noch auf Wilhelmshöhe; die Truppen aber wären
im Begriff über Bebra nach Hanau abzugehen, die Schienen zwischen Bebra
und Eisenach seien aufgerissen. Wer niemals in der Lage gewesen ist, zwischen
aufgebrochenen Schienensträngen sich zu befinden, der kann die Unbehagltchkeit


Für mich selbst ergab sich aus dem plötzlichen Ausbruche des Krieges
die Nothwendigkeit, in meine schwer bedrohte sächsische Heimat zu eilen. Wie
das zu bewerkstelligen sei. blieb zunächst freilich im Dunklen. Da ich den
Uebertritt Kurhesseus zu Preußen als sicher annehmen mußte, entschloß ich
mich, über Cassel und Eisenach durch Thüringen zu reisen und dazu den Eil-
zug zu benutzen, der in dieser Richtung von Göttingen fahrplanmäßig um
3 Uhr Nachmittags abgehen sollte; alle Personenzüge hatte man schon einge¬
stellt. Aus dem Bahnhöfe herrschte kriegerisches Getümmel: Truppenzüge kamen
von Norden und gingen zum Theil nach Süden weiter der hessischen Grenze
zu; der Perron und alle Räume waren gedrängt voll Soldaten, Geschütze
und Munitionswagen standen in dichten Reihen aufgefahren. Eifrig wurden
die Ereignisse in einzelnen Gruppen discutirt, vor allem die Ablehnung des
preußischen Ultimatums durch den König Georg; die Offiziere verbargen nicht
ihre Befriedigung darüber, so bedenklich die Lage des Heeres auch war.
„Hätten wir nur wenigstens die Brigade Kalik hier behalten, dann wäre es
ein ander Ding," bemerkte einer der Herren zu einem Militärärzte, der ihm
eben erzählt hatte, wie er mit seinem Truppentheile fast 5 Stunden lang
auf dem Bahnhofe in Hannover habe warten müssen, bis Wagen zu beschaffen
gewesen seien, ein Beweis mehr, wie vollkommen unvorbereitet das Heer dem
Kriege entgegenging.

Mir bltek vollständig Muße, solche Beobachtungen anzustellen, denn die
Ankunft des erwarteten Eilzuges verzögerte sich von Viertelstunde zu Viertel¬
stunde, erst um ö Uhr fuhr er ab. Zu jeder anderen Zeit hätte das Auge
mit Wohlgefallen geruht auf dieser anmuthigen Hügellandschaft, die unter
den Strahlen der Junisonne sich behaglich zu beiden Seiten der Bahn aus¬
breitete; aber jetzt hingen die Wetterwolken eines schweren Krieges über ihr.
Aller Orten machte sich die Aufregung deutlich fühlbar, alle Stationen waren
gedrängt voll Menschen, die mit dem vorüberfahrenden Zuge Nachrichten aus
dem Norden zu erhalten hofften; in Münden schien die halbe Bevölkerung
auf dem Bahnhofe versammelt. Kurz vor 7 Uhr lief der Zug in Cassel ein.
Die Perrons wimmelten von Truppenabtheilungen in einer der preußi¬
schen zum Verwechseln ähnlichen Uniform; waren die Preußen schon in Cassel?
Aber die Vorbereitungen zur Abfahrt, die überall sichtbar waren, Kanonen
und Munitionswagen, die eben in die Wagen gebracht wurden, die unver¬
kennbare Unruhe und Hast, die Alles erfüllte, deuteten auf ganz Anderes
hin, und bald erfuhr ich denn auch: Der Kurfürst habe das preußische Ulti¬
matum verworfen, sei selbst noch auf Wilhelmshöhe; die Truppen aber wären
im Begriff über Bebra nach Hanau abzugehen, die Schienen zwischen Bebra
und Eisenach seien aufgerissen. Wer niemals in der Lage gewesen ist, zwischen
aufgebrochenen Schienensträngen sich zu befinden, der kann die Unbehagltchkeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/481>, abgerufen am 28.07.2024.