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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Wirklichkett greifbar deutlich dicht vor die Augen trat, da bebte doch jeder
zurück und fragte sich bang: Wie wird das enden und wann? Unabsehbar*
Katastrophen schienen hereinbrechen zu müssen, und zunächst über Hannover.
Kein Mensch glaubte an seine Widerstandsfähigkeit Preußen gegenüber und
konnte daran glauben. Zu gut kannte man in Hannover die militärische Kraft
des nunmehrigen "Feindes" und die eigene Ohnmacht; und nicht nur den
Einmarsch der Preußen sah jeder kommen, sondern berechtigte Zweifel be¬
gannen schon in diesem Augenblicke aufzusteigen, ob denn Hannover nicht
mit jener verhängnißvollen Abstimmung in Frankfurt das Todesurtheil aus¬
gesprochen habe über die eigene staatliche Selbständigkeit.

Der Bormittag des 15. Juni -- es war ein Freitag -- verging in
peinlichster Spannung; mit sehr gemischten Gefühlen sah man die letzten
Oesterreicher, Jäger und Artillerie, vorüberfahren, die man nun als "Bundes¬
genossen" Hannovers betrachten sollte. Am Nachmittage aber jagten sich die
Nachrichten. In eine wissenschaftliche Besprechung hinein bringt ein Be¬
kannter die Nachricht: die Preußen seien bei Harburg*) über die Elbe gegan¬
gen, in Hannover eingerückt. Die Aufregung war infolge dessen groß und
für den Gegenstand der eben verhandelt wurde, wenig Sinn. Nachher eilt
Alles auf das "Literarische Museum", den gesellschaftlichen, politischen und
literarischen Mittelpunkt der Stadt. Dort stehen Depeschen angeschlagen vom
Einmärsche der Preußen, zugleich von dem Antrage Benntgsens in der han-
növerschen Kammer auf Entlassung des Ministeriums, das dem Könige ge¬
rathen für Oesterreich zu stimmen. Kaum ist das bekannt, so tritt mein
Freund N. N. herein, blaß vor Aufregung und meldet nach einem eben ein¬
gelaufenen Telegramm würden bereits diese Nacht die hannöverschen Garde¬
truppen "im Rückzüge auf Cassel" die Stadt passiren. Kurze Zeit später
hört man durch die Straßen den Ausrufer verkünden (denn die kleine Stadt
bediente sich damals noch dieser alterthümlichen Bekanntmachungsweise),
jeder Hausbesitzer habe sich für diese Nacht und den nächsten Tag auf un¬
beschränkte Einquartirung gefaßt zu halten. Das sah nicht aus wie ein
Rückzug nach Hessen; wollten die Hannoveraner bei Göttingen sich zur Wehre
setzen? Und doch sprach man schon davon, daß preußische Truppen auch von
Minden her die Grenze überschritten hätten und Reisende ihrer Colonnen
zwischen Harburg und Hannover ansichtig geworden seien.**) Von Minute
zu Minute wuchs die Aufregung; die sonst so stillen Straßen begannen sich
mit Menschenmassen zu füllen und alles drängte nach dem Bahnhofe, um die
erwarteten Truppen zu begrüßen. Gegen 10 Uhr waren sie da, schmucke
Gardejäger. Von hundertstimmigem Hochruf empfangen, ordneten sie sich und




"> Am Is. Juni Morgens.
Das Erstere geschah erst am 16. Juni, das Letztere war damals noch leere" Gerücht.

Wirklichkett greifbar deutlich dicht vor die Augen trat, da bebte doch jeder
zurück und fragte sich bang: Wie wird das enden und wann? Unabsehbar*
Katastrophen schienen hereinbrechen zu müssen, und zunächst über Hannover.
Kein Mensch glaubte an seine Widerstandsfähigkeit Preußen gegenüber und
konnte daran glauben. Zu gut kannte man in Hannover die militärische Kraft
des nunmehrigen „Feindes" und die eigene Ohnmacht; und nicht nur den
Einmarsch der Preußen sah jeder kommen, sondern berechtigte Zweifel be¬
gannen schon in diesem Augenblicke aufzusteigen, ob denn Hannover nicht
mit jener verhängnißvollen Abstimmung in Frankfurt das Todesurtheil aus¬
gesprochen habe über die eigene staatliche Selbständigkeit.

Der Bormittag des 15. Juni — es war ein Freitag — verging in
peinlichster Spannung; mit sehr gemischten Gefühlen sah man die letzten
Oesterreicher, Jäger und Artillerie, vorüberfahren, die man nun als „Bundes¬
genossen" Hannovers betrachten sollte. Am Nachmittage aber jagten sich die
Nachrichten. In eine wissenschaftliche Besprechung hinein bringt ein Be¬
kannter die Nachricht: die Preußen seien bei Harburg*) über die Elbe gegan¬
gen, in Hannover eingerückt. Die Aufregung war infolge dessen groß und
für den Gegenstand der eben verhandelt wurde, wenig Sinn. Nachher eilt
Alles auf das „Literarische Museum", den gesellschaftlichen, politischen und
literarischen Mittelpunkt der Stadt. Dort stehen Depeschen angeschlagen vom
Einmärsche der Preußen, zugleich von dem Antrage Benntgsens in der han-
növerschen Kammer auf Entlassung des Ministeriums, das dem Könige ge¬
rathen für Oesterreich zu stimmen. Kaum ist das bekannt, so tritt mein
Freund N. N. herein, blaß vor Aufregung und meldet nach einem eben ein¬
gelaufenen Telegramm würden bereits diese Nacht die hannöverschen Garde¬
truppen „im Rückzüge auf Cassel" die Stadt passiren. Kurze Zeit später
hört man durch die Straßen den Ausrufer verkünden (denn die kleine Stadt
bediente sich damals noch dieser alterthümlichen Bekanntmachungsweise),
jeder Hausbesitzer habe sich für diese Nacht und den nächsten Tag auf un¬
beschränkte Einquartirung gefaßt zu halten. Das sah nicht aus wie ein
Rückzug nach Hessen; wollten die Hannoveraner bei Göttingen sich zur Wehre
setzen? Und doch sprach man schon davon, daß preußische Truppen auch von
Minden her die Grenze überschritten hätten und Reisende ihrer Colonnen
zwischen Harburg und Hannover ansichtig geworden seien.**) Von Minute
zu Minute wuchs die Aufregung; die sonst so stillen Straßen begannen sich
mit Menschenmassen zu füllen und alles drängte nach dem Bahnhofe, um die
erwarteten Truppen zu begrüßen. Gegen 10 Uhr waren sie da, schmucke
Gardejäger. Von hundertstimmigem Hochruf empfangen, ordneten sie sich und




"> Am Is. Juni Morgens.
Das Erstere geschah erst am 16. Juni, das Letztere war damals noch leere« Gerücht.
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[0479] Wirklichkett greifbar deutlich dicht vor die Augen trat, da bebte doch jeder zurück und fragte sich bang: Wie wird das enden und wann? Unabsehbar* Katastrophen schienen hereinbrechen zu müssen, und zunächst über Hannover. Kein Mensch glaubte an seine Widerstandsfähigkeit Preußen gegenüber und konnte daran glauben. Zu gut kannte man in Hannover die militärische Kraft des nunmehrigen „Feindes" und die eigene Ohnmacht; und nicht nur den Einmarsch der Preußen sah jeder kommen, sondern berechtigte Zweifel be¬ gannen schon in diesem Augenblicke aufzusteigen, ob denn Hannover nicht mit jener verhängnißvollen Abstimmung in Frankfurt das Todesurtheil aus¬ gesprochen habe über die eigene staatliche Selbständigkeit. Der Bormittag des 15. Juni — es war ein Freitag — verging in peinlichster Spannung; mit sehr gemischten Gefühlen sah man die letzten Oesterreicher, Jäger und Artillerie, vorüberfahren, die man nun als „Bundes¬ genossen" Hannovers betrachten sollte. Am Nachmittage aber jagten sich die Nachrichten. In eine wissenschaftliche Besprechung hinein bringt ein Be¬ kannter die Nachricht: die Preußen seien bei Harburg*) über die Elbe gegan¬ gen, in Hannover eingerückt. Die Aufregung war infolge dessen groß und für den Gegenstand der eben verhandelt wurde, wenig Sinn. Nachher eilt Alles auf das „Literarische Museum", den gesellschaftlichen, politischen und literarischen Mittelpunkt der Stadt. Dort stehen Depeschen angeschlagen vom Einmärsche der Preußen, zugleich von dem Antrage Benntgsens in der han- növerschen Kammer auf Entlassung des Ministeriums, das dem Könige ge¬ rathen für Oesterreich zu stimmen. Kaum ist das bekannt, so tritt mein Freund N. N. herein, blaß vor Aufregung und meldet nach einem eben ein¬ gelaufenen Telegramm würden bereits diese Nacht die hannöverschen Garde¬ truppen „im Rückzüge auf Cassel" die Stadt passiren. Kurze Zeit später hört man durch die Straßen den Ausrufer verkünden (denn die kleine Stadt bediente sich damals noch dieser alterthümlichen Bekanntmachungsweise), jeder Hausbesitzer habe sich für diese Nacht und den nächsten Tag auf un¬ beschränkte Einquartirung gefaßt zu halten. Das sah nicht aus wie ein Rückzug nach Hessen; wollten die Hannoveraner bei Göttingen sich zur Wehre setzen? Und doch sprach man schon davon, daß preußische Truppen auch von Minden her die Grenze überschritten hätten und Reisende ihrer Colonnen zwischen Harburg und Hannover ansichtig geworden seien.**) Von Minute zu Minute wuchs die Aufregung; die sonst so stillen Straßen begannen sich mit Menschenmassen zu füllen und alles drängte nach dem Bahnhofe, um die erwarteten Truppen zu begrüßen. Gegen 10 Uhr waren sie da, schmucke Gardejäger. Von hundertstimmigem Hochruf empfangen, ordneten sie sich und "> Am Is. Juni Morgens. Das Erstere geschah erst am 16. Juni, das Letztere war damals noch leere« Gerücht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/479>, abgerufen am 27.11.2024.