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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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schriebenen Uebelstände noch für die medicinischen Dissertationen. Aber ich
muß es entschieden in Abrede stellen, daß dieses die Genesis der heut zu Tage
in Deutschland erscheinenden theologischen, juristischen, philologischen und
naturwissenschaftlichen Dissertationen sei, deren Werth unendlich höher ist, als
Vogt zu ahnen scheint. Vogt sagt aber nur, daß er die medicinischen Disser¬
tationen besonders im Auge habe. Er hätte besser gesagt, nur diese und
würde auch wohl dann Gegner seiner Ansicht gefunden haben. Denn über¬
all, wo man die Wissenschaft der Thatsachen und nicht die der Rhetorik treibt,
gelangt ein Theil der Studirenden zu selbständigem Arbeiten. Dessen erste
Frucht aber ist die Dissertation. Es ist dies eine so allgemeine bekannte
Thatsache, daß ein Streit darüber unnöthig ist. Wie es aber in der Medicin
steht, ist für die Entscheidung unserer Frage gänzlich gleichgültig. Denn Vogt
selbst gesteht zu, wie überflüssig jetzt für einen Mediciner die Erwerbung des
Doctortitels ist. Man muß nur immer festhalten, daß niemand gezwungen
sein soll, sich diesen Grad zu erwerben. Am allerwenigsten um der künftigen
Frau willen, wie Vogt meint.

In zwei Punkten hat Vogt allerdings völlig Recht. Einmal darin, daß
der französische voeteur höher stehe als der deutsche vootor Mr., raeä.,
MI.*). Allein das hat noch Niemand bezweifelt und Vogt wird nicht be-
streiten, daß das Niveau des deutschen Doctors sich bedeutend heben wird,
wenn alle deutschen Facultäten nach den preußischen Grundsätzen promoviren.
Dann aber ist richtig, daß man die Uebelstände beseitigen würde, wenn man
nur Ehrendoctoren creirte. Gewiß wären die meisten Uebelstände vermieden,
wenngleich Menschlichkeiten noch unterlaufen könnten. Aber daß sich dieses
jetzt nicht erreichen läßt, weiß Vogt sehr wohl. Wie kann man aber eine
theilweise Besserung bloß deshalb verdächtigen, weil sie nicht die radicale ist?
Solcher Radicaltsmus würde auf academische Verhältnisse übertragen freilich
viel Anhänger finden, doch nicht um seiner selbst, nur um seiner traurigen
Resultate willen. Niemand wird sich über Vogt's Artikel so sehr gefreut
haben wie die lauäatores temporis acti. Schmunzelnd werden sie sich
bei der Lecture desselben das Bekenntniß abgelegt haben: "Wir waren schlecht
und wir sind schlecht, ja recht herzlich schlecht, aber da wir nicht makellos
gut werden können, so wollen wir lieber recht schlecht bleiben."

Von allen diesen Einseitigkeiten hält sich nun eine Rede frei, welche mein
College Philippi unlängst hier in Gießen gehalten hat**). Sie bietet
weniger als der Titel eigentlich verspricht. Denn sie handelt fast ausschließlich
von der gedruckten Dissertation als Grundlage für jede Promotion. Sie




*) Die theologischen Grade eines I^Lvntiaws und Doctor können sich nach ihrer wissen¬
schaftlichen Bedeutung mit allen ausländischen Graden messen.
") A. Philippi, Ueber die Reform der Doctorpromotion. Gießen, I. Nicker. 1876.

schriebenen Uebelstände noch für die medicinischen Dissertationen. Aber ich
muß es entschieden in Abrede stellen, daß dieses die Genesis der heut zu Tage
in Deutschland erscheinenden theologischen, juristischen, philologischen und
naturwissenschaftlichen Dissertationen sei, deren Werth unendlich höher ist, als
Vogt zu ahnen scheint. Vogt sagt aber nur, daß er die medicinischen Disser¬
tationen besonders im Auge habe. Er hätte besser gesagt, nur diese und
würde auch wohl dann Gegner seiner Ansicht gefunden haben. Denn über¬
all, wo man die Wissenschaft der Thatsachen und nicht die der Rhetorik treibt,
gelangt ein Theil der Studirenden zu selbständigem Arbeiten. Dessen erste
Frucht aber ist die Dissertation. Es ist dies eine so allgemeine bekannte
Thatsache, daß ein Streit darüber unnöthig ist. Wie es aber in der Medicin
steht, ist für die Entscheidung unserer Frage gänzlich gleichgültig. Denn Vogt
selbst gesteht zu, wie überflüssig jetzt für einen Mediciner die Erwerbung des
Doctortitels ist. Man muß nur immer festhalten, daß niemand gezwungen
sein soll, sich diesen Grad zu erwerben. Am allerwenigsten um der künftigen
Frau willen, wie Vogt meint.

In zwei Punkten hat Vogt allerdings völlig Recht. Einmal darin, daß
der französische voeteur höher stehe als der deutsche vootor Mr., raeä.,
MI.*). Allein das hat noch Niemand bezweifelt und Vogt wird nicht be-
streiten, daß das Niveau des deutschen Doctors sich bedeutend heben wird,
wenn alle deutschen Facultäten nach den preußischen Grundsätzen promoviren.
Dann aber ist richtig, daß man die Uebelstände beseitigen würde, wenn man
nur Ehrendoctoren creirte. Gewiß wären die meisten Uebelstände vermieden,
wenngleich Menschlichkeiten noch unterlaufen könnten. Aber daß sich dieses
jetzt nicht erreichen läßt, weiß Vogt sehr wohl. Wie kann man aber eine
theilweise Besserung bloß deshalb verdächtigen, weil sie nicht die radicale ist?
Solcher Radicaltsmus würde auf academische Verhältnisse übertragen freilich
viel Anhänger finden, doch nicht um seiner selbst, nur um seiner traurigen
Resultate willen. Niemand wird sich über Vogt's Artikel so sehr gefreut
haben wie die lauäatores temporis acti. Schmunzelnd werden sie sich
bei der Lecture desselben das Bekenntniß abgelegt haben: „Wir waren schlecht
und wir sind schlecht, ja recht herzlich schlecht, aber da wir nicht makellos
gut werden können, so wollen wir lieber recht schlecht bleiben."

Von allen diesen Einseitigkeiten hält sich nun eine Rede frei, welche mein
College Philippi unlängst hier in Gießen gehalten hat**). Sie bietet
weniger als der Titel eigentlich verspricht. Denn sie handelt fast ausschließlich
von der gedruckten Dissertation als Grundlage für jede Promotion. Sie




*) Die theologischen Grade eines I^Lvntiaws und Doctor können sich nach ihrer wissen¬
schaftlichen Bedeutung mit allen ausländischen Graden messen.
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[0460] schriebenen Uebelstände noch für die medicinischen Dissertationen. Aber ich muß es entschieden in Abrede stellen, daß dieses die Genesis der heut zu Tage in Deutschland erscheinenden theologischen, juristischen, philologischen und naturwissenschaftlichen Dissertationen sei, deren Werth unendlich höher ist, als Vogt zu ahnen scheint. Vogt sagt aber nur, daß er die medicinischen Disser¬ tationen besonders im Auge habe. Er hätte besser gesagt, nur diese und würde auch wohl dann Gegner seiner Ansicht gefunden haben. Denn über¬ all, wo man die Wissenschaft der Thatsachen und nicht die der Rhetorik treibt, gelangt ein Theil der Studirenden zu selbständigem Arbeiten. Dessen erste Frucht aber ist die Dissertation. Es ist dies eine so allgemeine bekannte Thatsache, daß ein Streit darüber unnöthig ist. Wie es aber in der Medicin steht, ist für die Entscheidung unserer Frage gänzlich gleichgültig. Denn Vogt selbst gesteht zu, wie überflüssig jetzt für einen Mediciner die Erwerbung des Doctortitels ist. Man muß nur immer festhalten, daß niemand gezwungen sein soll, sich diesen Grad zu erwerben. Am allerwenigsten um der künftigen Frau willen, wie Vogt meint. In zwei Punkten hat Vogt allerdings völlig Recht. Einmal darin, daß der französische voeteur höher stehe als der deutsche vootor Mr., raeä., MI.*). Allein das hat noch Niemand bezweifelt und Vogt wird nicht be- streiten, daß das Niveau des deutschen Doctors sich bedeutend heben wird, wenn alle deutschen Facultäten nach den preußischen Grundsätzen promoviren. Dann aber ist richtig, daß man die Uebelstände beseitigen würde, wenn man nur Ehrendoctoren creirte. Gewiß wären die meisten Uebelstände vermieden, wenngleich Menschlichkeiten noch unterlaufen könnten. Aber daß sich dieses jetzt nicht erreichen läßt, weiß Vogt sehr wohl. Wie kann man aber eine theilweise Besserung bloß deshalb verdächtigen, weil sie nicht die radicale ist? Solcher Radicaltsmus würde auf academische Verhältnisse übertragen freilich viel Anhänger finden, doch nicht um seiner selbst, nur um seiner traurigen Resultate willen. Niemand wird sich über Vogt's Artikel so sehr gefreut haben wie die lauäatores temporis acti. Schmunzelnd werden sie sich bei der Lecture desselben das Bekenntniß abgelegt haben: „Wir waren schlecht und wir sind schlecht, ja recht herzlich schlecht, aber da wir nicht makellos gut werden können, so wollen wir lieber recht schlecht bleiben." Von allen diesen Einseitigkeiten hält sich nun eine Rede frei, welche mein College Philippi unlängst hier in Gießen gehalten hat**). Sie bietet weniger als der Titel eigentlich verspricht. Denn sie handelt fast ausschließlich von der gedruckten Dissertation als Grundlage für jede Promotion. Sie *) Die theologischen Grade eines I^Lvntiaws und Doctor können sich nach ihrer wissen¬ schaftlichen Bedeutung mit allen ausländischen Graden messen. ") A. Philippi, Ueber die Reform der Doctorpromotion. Gießen, I. Nicker. 1876.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/460>, abgerufen am 27.07.2024.