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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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schlelchung des philosophischen Doctorgrades durch Einreichung einer aus
einem Collegienheft abgeschriebenen Dissertation, wäre wohl bald wieder in
Vergessenheit gerathen, wenn nicht Th. Mommsen in zwei Aufsätzen, welche
in den Preußischen Jahrbüchern erschienen sind, in sehr offener Sprache auf
die Schäden unseres Promotionswesens aufmerksam gemacht hätte. Mommsen
begann zunächst mit einem Feldzuge gegen die Promotionen in adselltia
d. h. gegen die Verleihung des Doctorgrades um Geld ohne vorausgegangenes
mündliches Examen. Ein sehr ungeschickter Artikel einer süddeutschen Zeitung
machte sehr zur Unzeit daraus aufmerksam, daß Mommsen's "Keulenschläge"
auf Göttingen zielten und empfahl als nachahmungswerthe Einrichtung die
Promotionen der philosophischen Facultät zu Gießen, welche nur auf Grund
eines öffentlichen mündlichen Examens, niemals in adsoutis, statt¬
finden. Hierdurch war die Aufmerksamkeit auf einen Punkt gelenkt, welcher
im eigenen Interesse jenes Correspondenten besser unbeleuchtet geblieben wäre.
Es konnte nicht fehlen, daß dieser reclamenartige Artikel von anderer Seite
aufgegriffen wurde. So hielt denn bald ein Americaner (?) in einer Reihe
von Artikeln der Nordd. Allg. Ztg. jenem Correspondenten vor, daß die
Gießen er Doctoren in pra>s fertig, ihm nicht viel besser zu sein schienen
als seine heimischen viel geschmähten Doctoren. Und in der That sollte,
wer im Glashause sitzt, nicht mit Steinen werfen. Denn es kann kein
Zweifel darüber sein, daß Promotionen w adsöntig, wie sie so weitberühmte
philosophische Facultäten wie Göttingen und Leipzig vorgenommen haben,
die wissenschaftliche Bedeutung des Doctorgrades viel eher zu wahren im
Stande sind, als etwa die philosophischen zu Gießen oder die juristischen zu
Heidelberg. Denn eine Göttinger oder Leipziger promotio in absentia
erfolgte nur nach Etnlieferung einer die Wissenschaft wirklich fördernden
Arbeit, welche durch den Druck dem Urtheile des Publikums unterbreitet
wende. Sie erfolgte nur, wenn die Stellung oder der Wohnort des Be¬
werbers ein Erscheinen am Orte unmöglich machte. Ueberhaupt geschah sie
nur bei älteren, in Amt und Würden befindlichen Bewerbern, welche den
Doctorhut so gut ehrten, wie dieser sie. In den genannten Facultäten von
Gießen*) und Heidelberg jedoch genügt ein mündliches Examen. Dieses aber
kann im höchsten Falle eine gewisse Summe von Kenntnissen bei dem Exa-
minanden constatiren, nicht aber, ob derselbe sähig ist, etwas wissenschaft¬
liches zu leisten. Und nur hierfür soll nach ursprünglicher Absicht der Doctor-
grad verliehen werden, nur hierfür verleihen ihn strengere Facultäten.



') In einer Entgegnung' auf Mommsen's zweiten Artikel in den Preußischen Jahr¬
büchern erklärt der Rector unserer Landesuniversttät, daß man hier keine Dissertationen
fordere. Das ist ungenau, denn es gilt blos von der medicinischen und Philosophischen
Facultät. Die theologische und juristische fordern aus guten Gründen eine Dissertation. Sie
werden sich hoffentlich bald dazu entschließen, den Druck obligatorisch zu machen.

schlelchung des philosophischen Doctorgrades durch Einreichung einer aus
einem Collegienheft abgeschriebenen Dissertation, wäre wohl bald wieder in
Vergessenheit gerathen, wenn nicht Th. Mommsen in zwei Aufsätzen, welche
in den Preußischen Jahrbüchern erschienen sind, in sehr offener Sprache auf
die Schäden unseres Promotionswesens aufmerksam gemacht hätte. Mommsen
begann zunächst mit einem Feldzuge gegen die Promotionen in adselltia
d. h. gegen die Verleihung des Doctorgrades um Geld ohne vorausgegangenes
mündliches Examen. Ein sehr ungeschickter Artikel einer süddeutschen Zeitung
machte sehr zur Unzeit daraus aufmerksam, daß Mommsen's „Keulenschläge"
auf Göttingen zielten und empfahl als nachahmungswerthe Einrichtung die
Promotionen der philosophischen Facultät zu Gießen, welche nur auf Grund
eines öffentlichen mündlichen Examens, niemals in adsoutis, statt¬
finden. Hierdurch war die Aufmerksamkeit auf einen Punkt gelenkt, welcher
im eigenen Interesse jenes Correspondenten besser unbeleuchtet geblieben wäre.
Es konnte nicht fehlen, daß dieser reclamenartige Artikel von anderer Seite
aufgegriffen wurde. So hielt denn bald ein Americaner (?) in einer Reihe
von Artikeln der Nordd. Allg. Ztg. jenem Correspondenten vor, daß die
Gießen er Doctoren in pra>s fertig, ihm nicht viel besser zu sein schienen
als seine heimischen viel geschmähten Doctoren. Und in der That sollte,
wer im Glashause sitzt, nicht mit Steinen werfen. Denn es kann kein
Zweifel darüber sein, daß Promotionen w adsöntig, wie sie so weitberühmte
philosophische Facultäten wie Göttingen und Leipzig vorgenommen haben,
die wissenschaftliche Bedeutung des Doctorgrades viel eher zu wahren im
Stande sind, als etwa die philosophischen zu Gießen oder die juristischen zu
Heidelberg. Denn eine Göttinger oder Leipziger promotio in absentia
erfolgte nur nach Etnlieferung einer die Wissenschaft wirklich fördernden
Arbeit, welche durch den Druck dem Urtheile des Publikums unterbreitet
wende. Sie erfolgte nur, wenn die Stellung oder der Wohnort des Be¬
werbers ein Erscheinen am Orte unmöglich machte. Ueberhaupt geschah sie
nur bei älteren, in Amt und Würden befindlichen Bewerbern, welche den
Doctorhut so gut ehrten, wie dieser sie. In den genannten Facultäten von
Gießen*) und Heidelberg jedoch genügt ein mündliches Examen. Dieses aber
kann im höchsten Falle eine gewisse Summe von Kenntnissen bei dem Exa-
minanden constatiren, nicht aber, ob derselbe sähig ist, etwas wissenschaft¬
liches zu leisten. Und nur hierfür soll nach ursprünglicher Absicht der Doctor-
grad verliehen werden, nur hierfür verleihen ihn strengere Facultäten.



') In einer Entgegnung' auf Mommsen's zweiten Artikel in den Preußischen Jahr¬
büchern erklärt der Rector unserer Landesuniversttät, daß man hier keine Dissertationen
fordere. Das ist ungenau, denn es gilt blos von der medicinischen und Philosophischen
Facultät. Die theologische und juristische fordern aus guten Gründen eine Dissertation. Sie
werden sich hoffentlich bald dazu entschließen, den Druck obligatorisch zu machen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/455>, abgerufen am 27.11.2024.