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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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und Gurt, der Kranz aufgerichteter oder herabfallender Blätter als Symbol
der Begrenzung nach oben oder unten von der textilen Kunst aus in die
Architektur kamen, wie vom Teppich aus der Schmuck des Fußbodens, der
Wände sich gebildet hat. Er weist nach, wie der erwachende Kunstsinn sich
doch an das naturgegebene, an die Beschaffenheit des Stoffes hält, die Eigen¬
thümlichkeiten des Rohstoffs in Form und Farbe treu bewahrt und sinnvoll
verwerthet. Die Kunstgestalt soll wie das Ergebniß eigener innerer Bildungs¬
kraft des Stoffes erscheinen, das ist auch eins seiner ästhetischen Gesetze; das
Nothwendige, Wesenhafte klar und ganz erscheinen zu lassen, das entspricht
ihm von Seiten des Geistes. Auch in den Wandreliefs der ägyptischen und
assyrischen Bauten sieht Semper Nachbildungen von Teppichen; man ersetzte
das Gewebe durch den dauerhaften festen Stein; ja er spricht ausdrücklich
sogar von einem Straminstil der Aegypter, von einem Plattstichstil der Assyrier.
Aber das wäre offenbar zu weit gegangen, wenn wir annehmen sollten, daß
große vielfarbige figurenreiche Stickereien ausgeführt worden seien, ohne daß
man auch gezeichnet, gemalt und modellirt habe. Man muß dies letztere gethan
haben um jenes zu können, die handwerkliche Kunst erfährt den Einfluß der
freien, da sie den Boden bereitet; in der Wechselwirkung wachsen und gedeihen
beide; die burgundischen Teppiche sind bedingt durch die Malerschule van
Eyck's. für die Teppiche der sixtinischen Kapelle hat Rassel die Vorbilder
entworfen. Der assyrische Sticker und Weber wird auch sein Muster gehabt
haben, wofern er nicht selbst der Entwerfende und Ausführende in einer
Person war. Mir galt es, daran zu erinnern, daß wie in der Sprachbildung
und im Mythus, so auch bei den Schöpfungen der Menschenhand in der
vorgeschichtlichen Zeit der Grund gelegt ward für die in der Cultur sich ent¬
wickelnde Kunst und Wissenschaft, daß auf diesen Gebieten mehr die Phantasie
als der überlegende Verstand, mehr die instinctive, das einwohnende Gesetz
unbewußt erfüllende, als die bewußt erfindende Kraft wirksam gewesen. Der
Mensch ist Naturwesen und Geisteswesen zugleich, und aus der Natur des
Geistes sind die Anfänge der Cultur in stetigem Wachsthum hervorgegangen.


M. Carriere.


Die neuesten Stimmen über die Aeform der Doctor-
Promotion.

Durch einen scandalösen Vorfall wurde die Aufmerksamkeit weiterer
Kreise aus eine Institution unserer Universitäten gelenkt, welche zu Klagen
Anlaß gegeben hat, wohl so lange sie besteht. Aber jener Vorfall, die Er-


und Gurt, der Kranz aufgerichteter oder herabfallender Blätter als Symbol
der Begrenzung nach oben oder unten von der textilen Kunst aus in die
Architektur kamen, wie vom Teppich aus der Schmuck des Fußbodens, der
Wände sich gebildet hat. Er weist nach, wie der erwachende Kunstsinn sich
doch an das naturgegebene, an die Beschaffenheit des Stoffes hält, die Eigen¬
thümlichkeiten des Rohstoffs in Form und Farbe treu bewahrt und sinnvoll
verwerthet. Die Kunstgestalt soll wie das Ergebniß eigener innerer Bildungs¬
kraft des Stoffes erscheinen, das ist auch eins seiner ästhetischen Gesetze; das
Nothwendige, Wesenhafte klar und ganz erscheinen zu lassen, das entspricht
ihm von Seiten des Geistes. Auch in den Wandreliefs der ägyptischen und
assyrischen Bauten sieht Semper Nachbildungen von Teppichen; man ersetzte
das Gewebe durch den dauerhaften festen Stein; ja er spricht ausdrücklich
sogar von einem Straminstil der Aegypter, von einem Plattstichstil der Assyrier.
Aber das wäre offenbar zu weit gegangen, wenn wir annehmen sollten, daß
große vielfarbige figurenreiche Stickereien ausgeführt worden seien, ohne daß
man auch gezeichnet, gemalt und modellirt habe. Man muß dies letztere gethan
haben um jenes zu können, die handwerkliche Kunst erfährt den Einfluß der
freien, da sie den Boden bereitet; in der Wechselwirkung wachsen und gedeihen
beide; die burgundischen Teppiche sind bedingt durch die Malerschule van
Eyck's. für die Teppiche der sixtinischen Kapelle hat Rassel die Vorbilder
entworfen. Der assyrische Sticker und Weber wird auch sein Muster gehabt
haben, wofern er nicht selbst der Entwerfende und Ausführende in einer
Person war. Mir galt es, daran zu erinnern, daß wie in der Sprachbildung
und im Mythus, so auch bei den Schöpfungen der Menschenhand in der
vorgeschichtlichen Zeit der Grund gelegt ward für die in der Cultur sich ent¬
wickelnde Kunst und Wissenschaft, daß auf diesen Gebieten mehr die Phantasie
als der überlegende Verstand, mehr die instinctive, das einwohnende Gesetz
unbewußt erfüllende, als die bewußt erfindende Kraft wirksam gewesen. Der
Mensch ist Naturwesen und Geisteswesen zugleich, und aus der Natur des
Geistes sind die Anfänge der Cultur in stetigem Wachsthum hervorgegangen.


M. Carriere.


Die neuesten Stimmen über die Aeform der Doctor-
Promotion.

Durch einen scandalösen Vorfall wurde die Aufmerksamkeit weiterer
Kreise aus eine Institution unserer Universitäten gelenkt, welche zu Klagen
Anlaß gegeben hat, wohl so lange sie besteht. Aber jener Vorfall, die Er-


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[0454] und Gurt, der Kranz aufgerichteter oder herabfallender Blätter als Symbol der Begrenzung nach oben oder unten von der textilen Kunst aus in die Architektur kamen, wie vom Teppich aus der Schmuck des Fußbodens, der Wände sich gebildet hat. Er weist nach, wie der erwachende Kunstsinn sich doch an das naturgegebene, an die Beschaffenheit des Stoffes hält, die Eigen¬ thümlichkeiten des Rohstoffs in Form und Farbe treu bewahrt und sinnvoll verwerthet. Die Kunstgestalt soll wie das Ergebniß eigener innerer Bildungs¬ kraft des Stoffes erscheinen, das ist auch eins seiner ästhetischen Gesetze; das Nothwendige, Wesenhafte klar und ganz erscheinen zu lassen, das entspricht ihm von Seiten des Geistes. Auch in den Wandreliefs der ägyptischen und assyrischen Bauten sieht Semper Nachbildungen von Teppichen; man ersetzte das Gewebe durch den dauerhaften festen Stein; ja er spricht ausdrücklich sogar von einem Straminstil der Aegypter, von einem Plattstichstil der Assyrier. Aber das wäre offenbar zu weit gegangen, wenn wir annehmen sollten, daß große vielfarbige figurenreiche Stickereien ausgeführt worden seien, ohne daß man auch gezeichnet, gemalt und modellirt habe. Man muß dies letztere gethan haben um jenes zu können, die handwerkliche Kunst erfährt den Einfluß der freien, da sie den Boden bereitet; in der Wechselwirkung wachsen und gedeihen beide; die burgundischen Teppiche sind bedingt durch die Malerschule van Eyck's. für die Teppiche der sixtinischen Kapelle hat Rassel die Vorbilder entworfen. Der assyrische Sticker und Weber wird auch sein Muster gehabt haben, wofern er nicht selbst der Entwerfende und Ausführende in einer Person war. Mir galt es, daran zu erinnern, daß wie in der Sprachbildung und im Mythus, so auch bei den Schöpfungen der Menschenhand in der vorgeschichtlichen Zeit der Grund gelegt ward für die in der Cultur sich ent¬ wickelnde Kunst und Wissenschaft, daß auf diesen Gebieten mehr die Phantasie als der überlegende Verstand, mehr die instinctive, das einwohnende Gesetz unbewußt erfüllende, als die bewußt erfindende Kraft wirksam gewesen. Der Mensch ist Naturwesen und Geisteswesen zugleich, und aus der Natur des Geistes sind die Anfänge der Cultur in stetigem Wachsthum hervorgegangen. M. Carriere. Die neuesten Stimmen über die Aeform der Doctor- Promotion. Durch einen scandalösen Vorfall wurde die Aufmerksamkeit weiterer Kreise aus eine Institution unserer Universitäten gelenkt, welche zu Klagen Anlaß gegeben hat, wohl so lange sie besteht. Aber jener Vorfall, die Er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/454>, abgerufen am 27.11.2024.