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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Wehen zu schaffen und dann auch in freien Formen zu verleiblichen im Stande
ist? Ihn drückt wie alle tieferen und ernsteren deutschen Gemüther der Zwie¬
spalt zwischen Zeitgeist und Christenthum, Weltbildung und Glaube, mate¬
rialistischen Zug und geistig-sittlichem Beruf unseres Volkes - aber damit wird
dieser Zwiespalt nicht gehoben, daß man dem Staate die Pflicht zuschiebt, ihn
zu heben, oder den Rath gibt, die Kirche zu dieser Hebung anzustellen. Für
alle die Aufgaben, wie sie der Verfasser stellt, würden ihm in Staat und
Kirche die Leute fehlen; denn die vorhandenen Leute, auch die besten, sind
eben Kinder der Zeit und darum auch Kinder des Zwiespalts, und kein orga¬
nisches Gesetz des Staates wird uns die neue große Philosophie aus dem
Boden zaubern, nach der wir alle verlangen, die Philosophie, welche die
geistigen, sittlichen und religiösen Thatsachen mit ebenso unbefangenen Augen
anschaut wie die physischen und mathematischen, und beide in einer so voll¬
endeten Harmonie zusammenschaut, daß die einfache Verkündigung dieser
Harmonie aus dem Munde des Genius gleich der M"sik des Amphion die
disparaten Steine zum Aufbau eines einheitlichen Gesammtbewußtseins in
einanderfügt.

Wir wagen noch ein paar weitere Schritte in das Dunkel des großen
theoretisch-praktischen Problems, welches den edlen Geist des Verfassers be¬
schäftigt. Die erste Bedingung zur Heilung großer Uebel ist, daß man die¬
selben in ihrer ganzen Tiefe, in ihren letzten Ursachen erkenne. Hieran scheint
es uns bei dem Verfasser in etwas zu fehlen, wenn er die Entzweiung des
deutschen Geistes mit dem Christenthum erst von dem Sturz des letzten großen
philosophischen Systems, höchstens von dem Sturz der Aufklärung herleitet.
Der Ursprung der Aufklärung selbst schon war ein verhältnißmäßiger Bruch
mit dem Christenthum, freilich mit einem zur Fessel des Geistes, den es frei
machen sollte, gewordenen. Unsere heut culminirenden inneren Schäden gehen
schließlich auf die Verkümmerung eben des großen Processes zurück, dessen An¬
trieben wir alles Große und Gute im gegenwärtigen Deutschland verdanken,
auf die Verkümmerung der Reformation. Als die mittelalterliche knechtende
Beherrschung des geistigen und sittlichen Gesammtlebens durch die Kirche da
hinfiel, da hätte ein freies mütterlich-kindliches Verhältniß zwischen dem centra-
len, religiösen, und dem peripherischen, weltlichen Geistesleben sich bilden müssen,
und der Bund der reformatorischen Mystik mit dem Humanismus und Patrio¬
tismus des 16. Jahrhunderts schien ein solches in der That zu begründen.
Aber nur ein erkenntnißfreies und ethisch aufgeschlossenes Christenthum hätte
die Stellung eines Sonnencentrums inmitten der Planetenbahnen der theo¬
retischen und praktischen Lebensinteressen behaupten können: statt dessen haben
wir aus Gründen, die hier nicht weiter zu verfolgen sind, an denen aber die
"Verstaatlichung" der evangelischen Kirche stark betheiltgt ist, eine Verknöche-


Wehen zu schaffen und dann auch in freien Formen zu verleiblichen im Stande
ist? Ihn drückt wie alle tieferen und ernsteren deutschen Gemüther der Zwie¬
spalt zwischen Zeitgeist und Christenthum, Weltbildung und Glaube, mate¬
rialistischen Zug und geistig-sittlichem Beruf unseres Volkes - aber damit wird
dieser Zwiespalt nicht gehoben, daß man dem Staate die Pflicht zuschiebt, ihn
zu heben, oder den Rath gibt, die Kirche zu dieser Hebung anzustellen. Für
alle die Aufgaben, wie sie der Verfasser stellt, würden ihm in Staat und
Kirche die Leute fehlen; denn die vorhandenen Leute, auch die besten, sind
eben Kinder der Zeit und darum auch Kinder des Zwiespalts, und kein orga¬
nisches Gesetz des Staates wird uns die neue große Philosophie aus dem
Boden zaubern, nach der wir alle verlangen, die Philosophie, welche die
geistigen, sittlichen und religiösen Thatsachen mit ebenso unbefangenen Augen
anschaut wie die physischen und mathematischen, und beide in einer so voll¬
endeten Harmonie zusammenschaut, daß die einfache Verkündigung dieser
Harmonie aus dem Munde des Genius gleich der M»sik des Amphion die
disparaten Steine zum Aufbau eines einheitlichen Gesammtbewußtseins in
einanderfügt.

Wir wagen noch ein paar weitere Schritte in das Dunkel des großen
theoretisch-praktischen Problems, welches den edlen Geist des Verfassers be¬
schäftigt. Die erste Bedingung zur Heilung großer Uebel ist, daß man die¬
selben in ihrer ganzen Tiefe, in ihren letzten Ursachen erkenne. Hieran scheint
es uns bei dem Verfasser in etwas zu fehlen, wenn er die Entzweiung des
deutschen Geistes mit dem Christenthum erst von dem Sturz des letzten großen
philosophischen Systems, höchstens von dem Sturz der Aufklärung herleitet.
Der Ursprung der Aufklärung selbst schon war ein verhältnißmäßiger Bruch
mit dem Christenthum, freilich mit einem zur Fessel des Geistes, den es frei
machen sollte, gewordenen. Unsere heut culminirenden inneren Schäden gehen
schließlich auf die Verkümmerung eben des großen Processes zurück, dessen An¬
trieben wir alles Große und Gute im gegenwärtigen Deutschland verdanken,
auf die Verkümmerung der Reformation. Als die mittelalterliche knechtende
Beherrschung des geistigen und sittlichen Gesammtlebens durch die Kirche da
hinfiel, da hätte ein freies mütterlich-kindliches Verhältniß zwischen dem centra-
len, religiösen, und dem peripherischen, weltlichen Geistesleben sich bilden müssen,
und der Bund der reformatorischen Mystik mit dem Humanismus und Patrio¬
tismus des 16. Jahrhunderts schien ein solches in der That zu begründen.
Aber nur ein erkenntnißfreies und ethisch aufgeschlossenes Christenthum hätte
die Stellung eines Sonnencentrums inmitten der Planetenbahnen der theo¬
retischen und praktischen Lebensinteressen behaupten können: statt dessen haben
wir aus Gründen, die hier nicht weiter zu verfolgen sind, an denen aber die
„Verstaatlichung" der evangelischen Kirche stark betheiltgt ist, eine Verknöche-


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[0258] Wehen zu schaffen und dann auch in freien Formen zu verleiblichen im Stande ist? Ihn drückt wie alle tieferen und ernsteren deutschen Gemüther der Zwie¬ spalt zwischen Zeitgeist und Christenthum, Weltbildung und Glaube, mate¬ rialistischen Zug und geistig-sittlichem Beruf unseres Volkes - aber damit wird dieser Zwiespalt nicht gehoben, daß man dem Staate die Pflicht zuschiebt, ihn zu heben, oder den Rath gibt, die Kirche zu dieser Hebung anzustellen. Für alle die Aufgaben, wie sie der Verfasser stellt, würden ihm in Staat und Kirche die Leute fehlen; denn die vorhandenen Leute, auch die besten, sind eben Kinder der Zeit und darum auch Kinder des Zwiespalts, und kein orga¬ nisches Gesetz des Staates wird uns die neue große Philosophie aus dem Boden zaubern, nach der wir alle verlangen, die Philosophie, welche die geistigen, sittlichen und religiösen Thatsachen mit ebenso unbefangenen Augen anschaut wie die physischen und mathematischen, und beide in einer so voll¬ endeten Harmonie zusammenschaut, daß die einfache Verkündigung dieser Harmonie aus dem Munde des Genius gleich der M»sik des Amphion die disparaten Steine zum Aufbau eines einheitlichen Gesammtbewußtseins in einanderfügt. Wir wagen noch ein paar weitere Schritte in das Dunkel des großen theoretisch-praktischen Problems, welches den edlen Geist des Verfassers be¬ schäftigt. Die erste Bedingung zur Heilung großer Uebel ist, daß man die¬ selben in ihrer ganzen Tiefe, in ihren letzten Ursachen erkenne. Hieran scheint es uns bei dem Verfasser in etwas zu fehlen, wenn er die Entzweiung des deutschen Geistes mit dem Christenthum erst von dem Sturz des letzten großen philosophischen Systems, höchstens von dem Sturz der Aufklärung herleitet. Der Ursprung der Aufklärung selbst schon war ein verhältnißmäßiger Bruch mit dem Christenthum, freilich mit einem zur Fessel des Geistes, den es frei machen sollte, gewordenen. Unsere heut culminirenden inneren Schäden gehen schließlich auf die Verkümmerung eben des großen Processes zurück, dessen An¬ trieben wir alles Große und Gute im gegenwärtigen Deutschland verdanken, auf die Verkümmerung der Reformation. Als die mittelalterliche knechtende Beherrschung des geistigen und sittlichen Gesammtlebens durch die Kirche da hinfiel, da hätte ein freies mütterlich-kindliches Verhältniß zwischen dem centra- len, religiösen, und dem peripherischen, weltlichen Geistesleben sich bilden müssen, und der Bund der reformatorischen Mystik mit dem Humanismus und Patrio¬ tismus des 16. Jahrhunderts schien ein solches in der That zu begründen. Aber nur ein erkenntnißfreies und ethisch aufgeschlossenes Christenthum hätte die Stellung eines Sonnencentrums inmitten der Planetenbahnen der theo¬ retischen und praktischen Lebensinteressen behaupten können: statt dessen haben wir aus Gründen, die hier nicht weiter zu verfolgen sind, an denen aber die „Verstaatlichung" der evangelischen Kirche stark betheiltgt ist, eine Verknöche-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/258>, abgerufen am 28.07.2024.