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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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rung des reformatorischen Christenthums in scholastische Dogmatik erlitten,
und so mußte freilich der allgemein-wissenschaftliche wieder praktisch-sittliche
Geist je länger je mehr seine eigenen Wege gehen und in denselben durch die
Opposition gegen Theologie und Kirche, durch den Bruch mit der herrschenden
Gestalt des Christenthums bestimmt werden. Aus diesen schon im 16. und
17. Jahrhundert liegenden Wurzeln ist alle das überwuchernde Unkraut der
Gegenwart erwachsen. Der deutsche Geist hat sich viel und lange bemüht,
jenen Bruch nicht zu einem radicalen werden zu lassen; auch die Aufklärung
war ein Vermittlungsversuch, aber ein halbirender, der die eine Hälfte des
Christenthums wegwarf, um wie er meinte die andere zu retten. Ein tieferes
Suchen des Christenthums ging durch unsre große Poesie und Philosophie,
aber mehr ein Suchen als ein Finden; andrerseits suchte die Theologie sich
zu reformiren, ohne doch -- mehr durch philosophische und historische Kritik,
als durch einen frischen Trunk aus der ewigen Quelle angeregt -- wahrhaft
genesen zu können. Da schien endlich in den Jugendzeiten unsres Jahrhun¬
derts die große Versöhnung sich vollziehen zu wollen, als in dem großen
Doppelzögling der Brüdergemeinde und der Weltweisheit quellsrischer religiöser
und christlicher Glaube mit genialer Umfassung der geistigen und sittlichen
Interessen sich vereinte und ein verjüngtes Volk, geistig und sittlich hochge¬
hoben durch seine Dichter und Denker wie durch seine Drangsal und Erret¬
tung, einer verjüngten evangelischen Theologie und erneuerungswilligen Kirche
die Hände entgegenstreckte. Die halbhundertjährige Mißentwicklung unsres
Baterlandes, durch welche die Blüthen jenes Frühlings großenteils geknickt
und vergiftet worden sind, ist bekannt. Auf politischem Gebiet war ihre
Frucht das Jahr 1848 und was darauf gefolgt ist, bis dennoch die Gnade
Gottes in wunderbarer Wendung es zum Rechten und Guten kommen ließ;
auf religiösem war die Frucht jenes cynisch-philosophische und dann mate¬
rialistische Antichristenthum, das wir mit dem Verfasser beklagen und ver¬
klagen, und die Wendung zum Rechten und Guten ist noch nicht erfolgt.
Vielmehr haben vor der Hand die Gegensätze sich schärfer zugespitzt und
schroffer ausgeprägt denn je zuvor, und nur subjectiv, in der Gesinnung des
Einzelnen, gibt es zwischen Glaube und Zeitbildung, Christenthum und Jahr¬
hundert eine vorläufige Versöhnung. Erst wenn diese Gesinnung die nöthige
Energie und Ausbreitung gewonnen haben wird, werden wir die objective
Vermittelung finden.

Warum unser Verfasser diese ganze Tiefe des Uebels verhältnißmäßig
verkennt? Weil er zwischen Idealismus und Frömmigkeit, Idealismus und
Christenthum nicht hinreichend unterscheidet. Den Idealismus allerdings hat
unser Volksgeist noch lange über das Christenthum hinaus festgehalten, aber
der bloße Idealismus ist so wenig schon christlich, als jeder Realismus an-


rung des reformatorischen Christenthums in scholastische Dogmatik erlitten,
und so mußte freilich der allgemein-wissenschaftliche wieder praktisch-sittliche
Geist je länger je mehr seine eigenen Wege gehen und in denselben durch die
Opposition gegen Theologie und Kirche, durch den Bruch mit der herrschenden
Gestalt des Christenthums bestimmt werden. Aus diesen schon im 16. und
17. Jahrhundert liegenden Wurzeln ist alle das überwuchernde Unkraut der
Gegenwart erwachsen. Der deutsche Geist hat sich viel und lange bemüht,
jenen Bruch nicht zu einem radicalen werden zu lassen; auch die Aufklärung
war ein Vermittlungsversuch, aber ein halbirender, der die eine Hälfte des
Christenthums wegwarf, um wie er meinte die andere zu retten. Ein tieferes
Suchen des Christenthums ging durch unsre große Poesie und Philosophie,
aber mehr ein Suchen als ein Finden; andrerseits suchte die Theologie sich
zu reformiren, ohne doch — mehr durch philosophische und historische Kritik,
als durch einen frischen Trunk aus der ewigen Quelle angeregt — wahrhaft
genesen zu können. Da schien endlich in den Jugendzeiten unsres Jahrhun¬
derts die große Versöhnung sich vollziehen zu wollen, als in dem großen
Doppelzögling der Brüdergemeinde und der Weltweisheit quellsrischer religiöser
und christlicher Glaube mit genialer Umfassung der geistigen und sittlichen
Interessen sich vereinte und ein verjüngtes Volk, geistig und sittlich hochge¬
hoben durch seine Dichter und Denker wie durch seine Drangsal und Erret¬
tung, einer verjüngten evangelischen Theologie und erneuerungswilligen Kirche
die Hände entgegenstreckte. Die halbhundertjährige Mißentwicklung unsres
Baterlandes, durch welche die Blüthen jenes Frühlings großenteils geknickt
und vergiftet worden sind, ist bekannt. Auf politischem Gebiet war ihre
Frucht das Jahr 1848 und was darauf gefolgt ist, bis dennoch die Gnade
Gottes in wunderbarer Wendung es zum Rechten und Guten kommen ließ;
auf religiösem war die Frucht jenes cynisch-philosophische und dann mate¬
rialistische Antichristenthum, das wir mit dem Verfasser beklagen und ver¬
klagen, und die Wendung zum Rechten und Guten ist noch nicht erfolgt.
Vielmehr haben vor der Hand die Gegensätze sich schärfer zugespitzt und
schroffer ausgeprägt denn je zuvor, und nur subjectiv, in der Gesinnung des
Einzelnen, gibt es zwischen Glaube und Zeitbildung, Christenthum und Jahr¬
hundert eine vorläufige Versöhnung. Erst wenn diese Gesinnung die nöthige
Energie und Ausbreitung gewonnen haben wird, werden wir die objective
Vermittelung finden.

Warum unser Verfasser diese ganze Tiefe des Uebels verhältnißmäßig
verkennt? Weil er zwischen Idealismus und Frömmigkeit, Idealismus und
Christenthum nicht hinreichend unterscheidet. Den Idealismus allerdings hat
unser Volksgeist noch lange über das Christenthum hinaus festgehalten, aber
der bloße Idealismus ist so wenig schon christlich, als jeder Realismus an-


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[0259] rung des reformatorischen Christenthums in scholastische Dogmatik erlitten, und so mußte freilich der allgemein-wissenschaftliche wieder praktisch-sittliche Geist je länger je mehr seine eigenen Wege gehen und in denselben durch die Opposition gegen Theologie und Kirche, durch den Bruch mit der herrschenden Gestalt des Christenthums bestimmt werden. Aus diesen schon im 16. und 17. Jahrhundert liegenden Wurzeln ist alle das überwuchernde Unkraut der Gegenwart erwachsen. Der deutsche Geist hat sich viel und lange bemüht, jenen Bruch nicht zu einem radicalen werden zu lassen; auch die Aufklärung war ein Vermittlungsversuch, aber ein halbirender, der die eine Hälfte des Christenthums wegwarf, um wie er meinte die andere zu retten. Ein tieferes Suchen des Christenthums ging durch unsre große Poesie und Philosophie, aber mehr ein Suchen als ein Finden; andrerseits suchte die Theologie sich zu reformiren, ohne doch — mehr durch philosophische und historische Kritik, als durch einen frischen Trunk aus der ewigen Quelle angeregt — wahrhaft genesen zu können. Da schien endlich in den Jugendzeiten unsres Jahrhun¬ derts die große Versöhnung sich vollziehen zu wollen, als in dem großen Doppelzögling der Brüdergemeinde und der Weltweisheit quellsrischer religiöser und christlicher Glaube mit genialer Umfassung der geistigen und sittlichen Interessen sich vereinte und ein verjüngtes Volk, geistig und sittlich hochge¬ hoben durch seine Dichter und Denker wie durch seine Drangsal und Erret¬ tung, einer verjüngten evangelischen Theologie und erneuerungswilligen Kirche die Hände entgegenstreckte. Die halbhundertjährige Mißentwicklung unsres Baterlandes, durch welche die Blüthen jenes Frühlings großenteils geknickt und vergiftet worden sind, ist bekannt. Auf politischem Gebiet war ihre Frucht das Jahr 1848 und was darauf gefolgt ist, bis dennoch die Gnade Gottes in wunderbarer Wendung es zum Rechten und Guten kommen ließ; auf religiösem war die Frucht jenes cynisch-philosophische und dann mate¬ rialistische Antichristenthum, das wir mit dem Verfasser beklagen und ver¬ klagen, und die Wendung zum Rechten und Guten ist noch nicht erfolgt. Vielmehr haben vor der Hand die Gegensätze sich schärfer zugespitzt und schroffer ausgeprägt denn je zuvor, und nur subjectiv, in der Gesinnung des Einzelnen, gibt es zwischen Glaube und Zeitbildung, Christenthum und Jahr¬ hundert eine vorläufige Versöhnung. Erst wenn diese Gesinnung die nöthige Energie und Ausbreitung gewonnen haben wird, werden wir die objective Vermittelung finden. Warum unser Verfasser diese ganze Tiefe des Uebels verhältnißmäßig verkennt? Weil er zwischen Idealismus und Frömmigkeit, Idealismus und Christenthum nicht hinreichend unterscheidet. Den Idealismus allerdings hat unser Volksgeist noch lange über das Christenthum hinaus festgehalten, aber der bloße Idealismus ist so wenig schon christlich, als jeder Realismus an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/259>, abgerufen am 28.07.2024.