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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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brauchen) das reine Gold dieses himmlischen Idealismus dadurch erst haltbar
ausgeprägt, daß er ihm einen realistischen Zusatz gab, daß er das, was ur¬
sprünglich die wunderwirkende Stimme des Erlösers unmittelbar hervorrief,
als ein von Christo in Leben und Sterben (richtiger: in Tod und Aufer¬
stehung) erworbenes, den Gläubigen hinterlassenes Gnadengeschenk faßte und
verkündete. -- So hat der Verfasser in geiht- und liebevoller Weise sich das
Mische Evangelium sür sein philosophisches Bedürfniß zurechtgelegt; den
vollen und reinen Thatbestand desselben giebt er uns damit gleichwohl nicht.
Denn einmal ist die vermeintliche Zuthat des Paulus auch schon im Selbst¬
bewußtsein Jesu so vollkommen vorhanden gewesen, als sie vor Tod und
Auferstehung sein konnte, d. h. auch Jesus hat seine Jünger nicht durch ein
bloßes In ihnen hervorrufen oder Vom Himmel herabrufen, sondern nur
durch Selbstmittheilung, durch Lebensgemeinschaft mit Ihm des Himmelreichs
theilhaftig zu machen gedacht, wofür es hier genügen wird, uns auf die
Abendmahlseinsetzung zu berufen; und dies Bewußtsein, der persönliche Träger
Und reale Vermittler des Himmelreichs zu sein, ergiebt dann freilich eine
vollere Heilsbedeutung seiner Person als unser Verfasser bei allem Bemühen
auf seinem Wege erreichen kann. Dann aber hat Jesus das Himmelreich,
das er in sich zu tragen und mitzutheilen sich bewußt war. doch nicht blos als
ideale Innenwelt gedacht und gewollt, oder etwa, wenn er es als objective
Und jenseitige Realität darstellte, damit nur eine wesenlose Vorstellungshülle
Segeben, sondern er hat in Leben und Sterben sich selbst dafür verbürgt, daß
diese ideale Innenwelt sich dem Gläubigen als die zuletzt allein reale Total-
Kelt herausstellen werde. Und wie könnte es überhaupt einen weltüber¬
windenden Glauben an das sittliche Ideal geben ohne diese Zuversicht, daß
dieses Ideal einmal wirklich und völlig sich realisiren, als die Sünde und
Tod überwindende ewige Realität sich bewähren werde? Demnach wird die
"Jenseitigkeit" des Christenthums, über welche der Verfasser sich so schwankend
ausdrückt, und der metaphysische Hintergrund, den er demselben abzusprechen
scheint, allerdings ein wesentliches und unveräußerliches Element des Evan¬
geliums sein.

Ein Durchblick durch die Kirchengeschichte zeigt weiterhin, wie das Christen¬
thum allezeit die Form und Gestalt anzunehmen wußte, deren es als die
bewegende geistige Macht in der Weltgeschichte bedürfte. In der Gegenwart
"un steht ihm am meisten die beklagenswerthe Abwendung von den höchsten
Problemen überhaupt entgegen. Aber "das Christenthum zerstören, das
Christenthum verlassen oder nicht mehr verstehen bedeutet nichts anderes als
den Stillstand der sittlichen Weltschöpfung. Die sittliche Welt kann eine
Weile bestehen, kann sogar eine Weile in ihrem Bau rasch fortschreiten, wenn
den vorräthigen Kräften des sittlichen Selbst eine günstige Bahn eröffnet ist.


Grenzboten II. 1876. 27

brauchen) das reine Gold dieses himmlischen Idealismus dadurch erst haltbar
ausgeprägt, daß er ihm einen realistischen Zusatz gab, daß er das, was ur¬
sprünglich die wunderwirkende Stimme des Erlösers unmittelbar hervorrief,
als ein von Christo in Leben und Sterben (richtiger: in Tod und Aufer¬
stehung) erworbenes, den Gläubigen hinterlassenes Gnadengeschenk faßte und
verkündete. — So hat der Verfasser in geiht- und liebevoller Weise sich das
Mische Evangelium sür sein philosophisches Bedürfniß zurechtgelegt; den
vollen und reinen Thatbestand desselben giebt er uns damit gleichwohl nicht.
Denn einmal ist die vermeintliche Zuthat des Paulus auch schon im Selbst¬
bewußtsein Jesu so vollkommen vorhanden gewesen, als sie vor Tod und
Auferstehung sein konnte, d. h. auch Jesus hat seine Jünger nicht durch ein
bloßes In ihnen hervorrufen oder Vom Himmel herabrufen, sondern nur
durch Selbstmittheilung, durch Lebensgemeinschaft mit Ihm des Himmelreichs
theilhaftig zu machen gedacht, wofür es hier genügen wird, uns auf die
Abendmahlseinsetzung zu berufen; und dies Bewußtsein, der persönliche Träger
Und reale Vermittler des Himmelreichs zu sein, ergiebt dann freilich eine
vollere Heilsbedeutung seiner Person als unser Verfasser bei allem Bemühen
auf seinem Wege erreichen kann. Dann aber hat Jesus das Himmelreich,
das er in sich zu tragen und mitzutheilen sich bewußt war. doch nicht blos als
ideale Innenwelt gedacht und gewollt, oder etwa, wenn er es als objective
Und jenseitige Realität darstellte, damit nur eine wesenlose Vorstellungshülle
Segeben, sondern er hat in Leben und Sterben sich selbst dafür verbürgt, daß
diese ideale Innenwelt sich dem Gläubigen als die zuletzt allein reale Total-
Kelt herausstellen werde. Und wie könnte es überhaupt einen weltüber¬
windenden Glauben an das sittliche Ideal geben ohne diese Zuversicht, daß
dieses Ideal einmal wirklich und völlig sich realisiren, als die Sünde und
Tod überwindende ewige Realität sich bewähren werde? Demnach wird die
»Jenseitigkeit« des Christenthums, über welche der Verfasser sich so schwankend
ausdrückt, und der metaphysische Hintergrund, den er demselben abzusprechen
scheint, allerdings ein wesentliches und unveräußerliches Element des Evan¬
geliums sein.

Ein Durchblick durch die Kirchengeschichte zeigt weiterhin, wie das Christen¬
thum allezeit die Form und Gestalt anzunehmen wußte, deren es als die
bewegende geistige Macht in der Weltgeschichte bedürfte. In der Gegenwart
"un steht ihm am meisten die beklagenswerthe Abwendung von den höchsten
Problemen überhaupt entgegen. Aber „das Christenthum zerstören, das
Christenthum verlassen oder nicht mehr verstehen bedeutet nichts anderes als
den Stillstand der sittlichen Weltschöpfung. Die sittliche Welt kann eine
Weile bestehen, kann sogar eine Weile in ihrem Bau rasch fortschreiten, wenn
den vorräthigen Kräften des sittlichen Selbst eine günstige Bahn eröffnet ist.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/213>, abgerufen am 28.11.2024.