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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Aber der Brunnen dieser Kräfte wird plötzlich versiegen, wenn die Erzeugung
des Quells aufhört." . . "Das ist der Gedanke, der eigentlich den Mittel¬
punkt unserer Ausführung bildet, den wir nicht hell und eindringlich genug
hervorheben können, daß das höhere -- auch das eigentliche und wahre
theoretische -- Leben seinerseits von der innersten Beschaffenheit des Gemüthes,
von der Freiheit des geistigen Selbst abhängt. Das Christenthum aber ist
gar nichts anderes als die Religion der Freiheit, als der Schöpfung des gei¬
stigen Selbst durch den Gedanken Gottes." -- Wird nun der Möglichkeit einer
Wiederbelebung des Christenthums die "magisch-mechanische Vorstellungshülle"
entgegengehalten, "die den Kern desselben umgeben hat und wenn auch in ewig
veränderter Gestalt vielleicht immer umgeben wird," und in welcher Freigeister
gewöhnlichen Schlages wie Strauß das Christenthum selbst erblicken, so tritt
dagegen der Verfasser den Nachweis an, daß alle die Geistesheroen unsrer
neueren deutschen Geschichte sich zum Kern des Christenthums bekannt. Dieser
Nachweis wird in eingehender liebevoller Weise an Lessing, Kant, Fichte,
Hegel, Schiller und Goethe erbracht, freilich so, daß dabei das Christenthum
wesentlich ideell gefaßt und sein Thatsächliches über Gebühr aus dem Kern
in die Schale verwiesen wird. Befremden muß es, unter den Heroen deut¬
scher Philosophie den Namen Schellin g's lautlos übergangen zu sehen, und
daß vollends der Mann, der mehr als die Genannten alle zum Verständniß
des Christenthums und zu seiner Wiedererweckung in unserm Jahrhundert ge¬
than hat, daß Schleiermacher nur anhangsweise hinter Schopenhauer zur
Sprache kommt, um hinsichtlich seines für die ganze neuere Theologie bahn¬
brechenden Religionsbegriffes wie ein Narr behandelt zu werden, das muß
man der in diesem Punkte unüberwindlichen Befangenheit des Hegel'schen
Standpunktes zu Gute halten. Der Versasser nimmt unter einseitiger Berufung
auf die frühesten und ungeklärtesten Aeußerungen Schleiermacher's das "Gefühl",
in welches derselbe den Sitz der Religion verlegt, für das bloße Organ der
Andacht, das mit Erkenntniß und Willensthätigkeit gar nichts zu schaffen
habe. Das in Rede stehende "Gefühl" ist vielmehr, wofür Schleiermacher's
"christliche Glaubens- und Sittenlehre" schon mit ihrer Existenz beweisend
eintreten, die ursprüngliche unmittelbare Einheit des geistigen Lebens, die sich
dann in Erkenntniß- und Willensthätigkeit dirimirt, und gerade nur nach
dieser Lehre ist es zu verstehen, daß es ein selbständiges religiöses Erkennen
gibt, das unabhängig vom philosophischen ist, und daß die Religion die höchste
und eigentliche Macht der sittlichen Impulse ist; -- nach Hegel ist beides
schlechterdings nicht zu verstehen. Denn nach ihm ist die Religion nur Vor¬
stellung und als solche die unvollkommnere Vorstufe des Gedankens, des philo¬
sophischen Begriffs, wonach es nicht nur kein selbständiges und eigenthüm¬
liches religiöses Erkennen gibt, sondern auch der Religion keinerlei willen-


Aber der Brunnen dieser Kräfte wird plötzlich versiegen, wenn die Erzeugung
des Quells aufhört." . . „Das ist der Gedanke, der eigentlich den Mittel¬
punkt unserer Ausführung bildet, den wir nicht hell und eindringlich genug
hervorheben können, daß das höhere — auch das eigentliche und wahre
theoretische — Leben seinerseits von der innersten Beschaffenheit des Gemüthes,
von der Freiheit des geistigen Selbst abhängt. Das Christenthum aber ist
gar nichts anderes als die Religion der Freiheit, als der Schöpfung des gei¬
stigen Selbst durch den Gedanken Gottes." — Wird nun der Möglichkeit einer
Wiederbelebung des Christenthums die „magisch-mechanische Vorstellungshülle"
entgegengehalten, „die den Kern desselben umgeben hat und wenn auch in ewig
veränderter Gestalt vielleicht immer umgeben wird," und in welcher Freigeister
gewöhnlichen Schlages wie Strauß das Christenthum selbst erblicken, so tritt
dagegen der Verfasser den Nachweis an, daß alle die Geistesheroen unsrer
neueren deutschen Geschichte sich zum Kern des Christenthums bekannt. Dieser
Nachweis wird in eingehender liebevoller Weise an Lessing, Kant, Fichte,
Hegel, Schiller und Goethe erbracht, freilich so, daß dabei das Christenthum
wesentlich ideell gefaßt und sein Thatsächliches über Gebühr aus dem Kern
in die Schale verwiesen wird. Befremden muß es, unter den Heroen deut¬
scher Philosophie den Namen Schellin g's lautlos übergangen zu sehen, und
daß vollends der Mann, der mehr als die Genannten alle zum Verständniß
des Christenthums und zu seiner Wiedererweckung in unserm Jahrhundert ge¬
than hat, daß Schleiermacher nur anhangsweise hinter Schopenhauer zur
Sprache kommt, um hinsichtlich seines für die ganze neuere Theologie bahn¬
brechenden Religionsbegriffes wie ein Narr behandelt zu werden, das muß
man der in diesem Punkte unüberwindlichen Befangenheit des Hegel'schen
Standpunktes zu Gute halten. Der Versasser nimmt unter einseitiger Berufung
auf die frühesten und ungeklärtesten Aeußerungen Schleiermacher's das „Gefühl",
in welches derselbe den Sitz der Religion verlegt, für das bloße Organ der
Andacht, das mit Erkenntniß und Willensthätigkeit gar nichts zu schaffen
habe. Das in Rede stehende „Gefühl" ist vielmehr, wofür Schleiermacher's
„christliche Glaubens- und Sittenlehre" schon mit ihrer Existenz beweisend
eintreten, die ursprüngliche unmittelbare Einheit des geistigen Lebens, die sich
dann in Erkenntniß- und Willensthätigkeit dirimirt, und gerade nur nach
dieser Lehre ist es zu verstehen, daß es ein selbständiges religiöses Erkennen
gibt, das unabhängig vom philosophischen ist, und daß die Religion die höchste
und eigentliche Macht der sittlichen Impulse ist; — nach Hegel ist beides
schlechterdings nicht zu verstehen. Denn nach ihm ist die Religion nur Vor¬
stellung und als solche die unvollkommnere Vorstufe des Gedankens, des philo¬
sophischen Begriffs, wonach es nicht nur kein selbständiges und eigenthüm¬
liches religiöses Erkennen gibt, sondern auch der Religion keinerlei willen-


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[0214] Aber der Brunnen dieser Kräfte wird plötzlich versiegen, wenn die Erzeugung des Quells aufhört." . . „Das ist der Gedanke, der eigentlich den Mittel¬ punkt unserer Ausführung bildet, den wir nicht hell und eindringlich genug hervorheben können, daß das höhere — auch das eigentliche und wahre theoretische — Leben seinerseits von der innersten Beschaffenheit des Gemüthes, von der Freiheit des geistigen Selbst abhängt. Das Christenthum aber ist gar nichts anderes als die Religion der Freiheit, als der Schöpfung des gei¬ stigen Selbst durch den Gedanken Gottes." — Wird nun der Möglichkeit einer Wiederbelebung des Christenthums die „magisch-mechanische Vorstellungshülle" entgegengehalten, „die den Kern desselben umgeben hat und wenn auch in ewig veränderter Gestalt vielleicht immer umgeben wird," und in welcher Freigeister gewöhnlichen Schlages wie Strauß das Christenthum selbst erblicken, so tritt dagegen der Verfasser den Nachweis an, daß alle die Geistesheroen unsrer neueren deutschen Geschichte sich zum Kern des Christenthums bekannt. Dieser Nachweis wird in eingehender liebevoller Weise an Lessing, Kant, Fichte, Hegel, Schiller und Goethe erbracht, freilich so, daß dabei das Christenthum wesentlich ideell gefaßt und sein Thatsächliches über Gebühr aus dem Kern in die Schale verwiesen wird. Befremden muß es, unter den Heroen deut¬ scher Philosophie den Namen Schellin g's lautlos übergangen zu sehen, und daß vollends der Mann, der mehr als die Genannten alle zum Verständniß des Christenthums und zu seiner Wiedererweckung in unserm Jahrhundert ge¬ than hat, daß Schleiermacher nur anhangsweise hinter Schopenhauer zur Sprache kommt, um hinsichtlich seines für die ganze neuere Theologie bahn¬ brechenden Religionsbegriffes wie ein Narr behandelt zu werden, das muß man der in diesem Punkte unüberwindlichen Befangenheit des Hegel'schen Standpunktes zu Gute halten. Der Versasser nimmt unter einseitiger Berufung auf die frühesten und ungeklärtesten Aeußerungen Schleiermacher's das „Gefühl", in welches derselbe den Sitz der Religion verlegt, für das bloße Organ der Andacht, das mit Erkenntniß und Willensthätigkeit gar nichts zu schaffen habe. Das in Rede stehende „Gefühl" ist vielmehr, wofür Schleiermacher's „christliche Glaubens- und Sittenlehre" schon mit ihrer Existenz beweisend eintreten, die ursprüngliche unmittelbare Einheit des geistigen Lebens, die sich dann in Erkenntniß- und Willensthätigkeit dirimirt, und gerade nur nach dieser Lehre ist es zu verstehen, daß es ein selbständiges religiöses Erkennen gibt, das unabhängig vom philosophischen ist, und daß die Religion die höchste und eigentliche Macht der sittlichen Impulse ist; — nach Hegel ist beides schlechterdings nicht zu verstehen. Denn nach ihm ist die Religion nur Vor¬ stellung und als solche die unvollkommnere Vorstufe des Gedankens, des philo¬ sophischen Begriffs, wonach es nicht nur kein selbständiges und eigenthüm¬ liches religiöses Erkennen gibt, sondern auch der Religion keinerlei willen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/214>, abgerufen am 27.11.2024.