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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Fragen durch dieselbe Fixsternweite getrennt bleibt, durch die sie von jeher
von ihnen getrennt war." Ueberhaupt bleibt alles Wissen Stückwerk: der
große unaufgebliche Beruf des Menschen ist es aber, aus dem Stückwerk des
Lebens ein Ganzes zu machen, und nur der Glaube ist es, durch den er das
vermag. Wie soll nun diese unentbehrliche Ergänzung des Wissens zum sitt¬
lichen Schaffen durch die Geisteskraft des Glaubens bloße Privatsache des
Einzelnen, wie sollte die Religion nicht Sache des Staates sein? Entkirch-
lichung des Staates, -- das hat nur Sinn, wenn man von jenem kümmer¬
lichen Staatsbegriff ausgeht, der in dem Staate nichts als die formale Rechts¬
anstalt sieht; aber über diesen Staatsbegriff, nach welchem Nationalität und
Patriotismus leere Klänge werden, nach welchem der Mensch sich überall
gleich gut einbürgern müßte, wo er nur die gehörige Rechtsverwaltung fände,
ist kein Wort zu verlieren. Der Staat ist vielmehr -- fährt unser Versasser
mit einem, wie uns scheint, allzukühnen Entweder-Oder fort -- die Verwirk¬
lichung der sittlichen Idee, die Concentration der sittlichen Functionen, der
sittliche Mikrokosmus: wie könnte er demnach den Heerd des Glaubens und
damit der stärksten und höchsten sittlichen Triebkräfte entbehren? Und so
ergiebt sich die Kirche als religiöse Seite des Staates (Hegel), so ergiebt sich
die deutsch-evangelische Staatskirche als das Losungs- und Losungswort
unsres Buches.

Diese Losung und Lösung enthielte freilich etwas unmögliches, wenn sie
dem Staate zumuthete zur Herstellung der ihm entsprechenden Kirche eine
neue religiöse Substanz zu schaffen. Aber das ist in keiner Weise erforderlich:
das Christenthum trägt in sich eine unerschöpfte, neuer Entwicklungen fähige
Kraft. Ein neuer großer Abschnitt des Buches, fast den vierten Theil des
Ganzen umfassend, unternimmt unter der Aufschrift "das Christenthum und
die Geistesbildung" dies nachzuweisen. Das Christenthum im Unterschied von
allen andern Religionen verlangt nur Eins: die wahre Gestalt des inneren
Menschen. Und diese Gestalt des inneren Menschen, aus der das höchste
Ideal der Menschheit erwächst, ist in den unvergänglichen Sprüchen der
Christenlehre, vor allem der Bergpredigt, "so erhaben, rein, einfach, gewaltig
und natürlich gezeichnet, daß alle andere Erfassung des menschlichen Lebens
daneben wie trübes ohnmächtiges Gewölk gegen das ewige Licht erscheint."
Die Kraft aber, jene vollkommene Gestalt des inwendigen Menschen zu ahnen,
zu wollen und hervorzubringen, ist der Glaube, und in der Erweckung dieses
"inneren Sinnes für die Wahrheit einer unsichtbaren Welt", dieser "Thätig¬
keit des innersten Willens, den ganzen Boden des Gemüths zum Heiligthum,
zur reinen Stätte eines vollkommenen Lebens zu machen", .hat Christus ge¬
radezu eine neue Kraft in das Vermögen der Menschheit eingeführt. Paulus
aber hat (damit wir anstatt eines mißglückter Bildes des Verfassers ein eignes


Fragen durch dieselbe Fixsternweite getrennt bleibt, durch die sie von jeher
von ihnen getrennt war." Ueberhaupt bleibt alles Wissen Stückwerk: der
große unaufgebliche Beruf des Menschen ist es aber, aus dem Stückwerk des
Lebens ein Ganzes zu machen, und nur der Glaube ist es, durch den er das
vermag. Wie soll nun diese unentbehrliche Ergänzung des Wissens zum sitt¬
lichen Schaffen durch die Geisteskraft des Glaubens bloße Privatsache des
Einzelnen, wie sollte die Religion nicht Sache des Staates sein? Entkirch-
lichung des Staates, — das hat nur Sinn, wenn man von jenem kümmer¬
lichen Staatsbegriff ausgeht, der in dem Staate nichts als die formale Rechts¬
anstalt sieht; aber über diesen Staatsbegriff, nach welchem Nationalität und
Patriotismus leere Klänge werden, nach welchem der Mensch sich überall
gleich gut einbürgern müßte, wo er nur die gehörige Rechtsverwaltung fände,
ist kein Wort zu verlieren. Der Staat ist vielmehr — fährt unser Versasser
mit einem, wie uns scheint, allzukühnen Entweder-Oder fort — die Verwirk¬
lichung der sittlichen Idee, die Concentration der sittlichen Functionen, der
sittliche Mikrokosmus: wie könnte er demnach den Heerd des Glaubens und
damit der stärksten und höchsten sittlichen Triebkräfte entbehren? Und so
ergiebt sich die Kirche als religiöse Seite des Staates (Hegel), so ergiebt sich
die deutsch-evangelische Staatskirche als das Losungs- und Losungswort
unsres Buches.

Diese Losung und Lösung enthielte freilich etwas unmögliches, wenn sie
dem Staate zumuthete zur Herstellung der ihm entsprechenden Kirche eine
neue religiöse Substanz zu schaffen. Aber das ist in keiner Weise erforderlich:
das Christenthum trägt in sich eine unerschöpfte, neuer Entwicklungen fähige
Kraft. Ein neuer großer Abschnitt des Buches, fast den vierten Theil des
Ganzen umfassend, unternimmt unter der Aufschrift „das Christenthum und
die Geistesbildung" dies nachzuweisen. Das Christenthum im Unterschied von
allen andern Religionen verlangt nur Eins: die wahre Gestalt des inneren
Menschen. Und diese Gestalt des inneren Menschen, aus der das höchste
Ideal der Menschheit erwächst, ist in den unvergänglichen Sprüchen der
Christenlehre, vor allem der Bergpredigt, „so erhaben, rein, einfach, gewaltig
und natürlich gezeichnet, daß alle andere Erfassung des menschlichen Lebens
daneben wie trübes ohnmächtiges Gewölk gegen das ewige Licht erscheint."
Die Kraft aber, jene vollkommene Gestalt des inwendigen Menschen zu ahnen,
zu wollen und hervorzubringen, ist der Glaube, und in der Erweckung dieses
„inneren Sinnes für die Wahrheit einer unsichtbaren Welt", dieser „Thätig¬
keit des innersten Willens, den ganzen Boden des Gemüths zum Heiligthum,
zur reinen Stätte eines vollkommenen Lebens zu machen", .hat Christus ge¬
radezu eine neue Kraft in das Vermögen der Menschheit eingeführt. Paulus
aber hat (damit wir anstatt eines mißglückter Bildes des Verfassers ein eignes


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[0212] Fragen durch dieselbe Fixsternweite getrennt bleibt, durch die sie von jeher von ihnen getrennt war." Ueberhaupt bleibt alles Wissen Stückwerk: der große unaufgebliche Beruf des Menschen ist es aber, aus dem Stückwerk des Lebens ein Ganzes zu machen, und nur der Glaube ist es, durch den er das vermag. Wie soll nun diese unentbehrliche Ergänzung des Wissens zum sitt¬ lichen Schaffen durch die Geisteskraft des Glaubens bloße Privatsache des Einzelnen, wie sollte die Religion nicht Sache des Staates sein? Entkirch- lichung des Staates, — das hat nur Sinn, wenn man von jenem kümmer¬ lichen Staatsbegriff ausgeht, der in dem Staate nichts als die formale Rechts¬ anstalt sieht; aber über diesen Staatsbegriff, nach welchem Nationalität und Patriotismus leere Klänge werden, nach welchem der Mensch sich überall gleich gut einbürgern müßte, wo er nur die gehörige Rechtsverwaltung fände, ist kein Wort zu verlieren. Der Staat ist vielmehr — fährt unser Versasser mit einem, wie uns scheint, allzukühnen Entweder-Oder fort — die Verwirk¬ lichung der sittlichen Idee, die Concentration der sittlichen Functionen, der sittliche Mikrokosmus: wie könnte er demnach den Heerd des Glaubens und damit der stärksten und höchsten sittlichen Triebkräfte entbehren? Und so ergiebt sich die Kirche als religiöse Seite des Staates (Hegel), so ergiebt sich die deutsch-evangelische Staatskirche als das Losungs- und Losungswort unsres Buches. Diese Losung und Lösung enthielte freilich etwas unmögliches, wenn sie dem Staate zumuthete zur Herstellung der ihm entsprechenden Kirche eine neue religiöse Substanz zu schaffen. Aber das ist in keiner Weise erforderlich: das Christenthum trägt in sich eine unerschöpfte, neuer Entwicklungen fähige Kraft. Ein neuer großer Abschnitt des Buches, fast den vierten Theil des Ganzen umfassend, unternimmt unter der Aufschrift „das Christenthum und die Geistesbildung" dies nachzuweisen. Das Christenthum im Unterschied von allen andern Religionen verlangt nur Eins: die wahre Gestalt des inneren Menschen. Und diese Gestalt des inneren Menschen, aus der das höchste Ideal der Menschheit erwächst, ist in den unvergänglichen Sprüchen der Christenlehre, vor allem der Bergpredigt, „so erhaben, rein, einfach, gewaltig und natürlich gezeichnet, daß alle andere Erfassung des menschlichen Lebens daneben wie trübes ohnmächtiges Gewölk gegen das ewige Licht erscheint." Die Kraft aber, jene vollkommene Gestalt des inwendigen Menschen zu ahnen, zu wollen und hervorzubringen, ist der Glaube, und in der Erweckung dieses „inneren Sinnes für die Wahrheit einer unsichtbaren Welt", dieser „Thätig¬ keit des innersten Willens, den ganzen Boden des Gemüths zum Heiligthum, zur reinen Stätte eines vollkommenen Lebens zu machen", .hat Christus ge¬ radezu eine neue Kraft in das Vermögen der Menschheit eingeführt. Paulus aber hat (damit wir anstatt eines mißglückter Bildes des Verfassers ein eignes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/212>, abgerufen am 27.07.2024.