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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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wir dürfen nicht länger versäumen, das Ewige für unsre Gedanken zu
retten und nicht blos mit dem Organ der Empfindung aufzunehmen."

Ein siebentes Kapitel, "der Geist der Gegenwart und das kirchenpolitische
Problem", ruft uns zu der großen national-kirchlichen Aufgabe zurück. "Diese
Zeit, ungeistlich, weil sie die Einheit des geistigen Lebens verloren hat, un¬
christlich, weil das Christenthum in ihren Kirchen entweder wie eine leblose
Antiquität oder als ein sinnberückendes Herrschaftsmittel gehegt wird . . .,
diese Zeit sieht sich plötzlich vor eine Ausgabe religiöser und kirchlicher Ge¬
staltung gestellt, wie seit den Tagen der Reformation dem deutschen Volke
keine vorgelegen" ... "An eine ausgetrocknete Stätte legte Rom seinen Brand.
Da ertönt der Ruf nach unvergänglichen Wasser. Die Zeit aber, die nicht
mehr weiß, wo solches Wasser zu schöpfen, ergeht sich in den mannigfachsten
Sophismen, daß das Suchen danach thöricht und die Abwehr des Feuers
vergeblich sei." Der Verfasser nimmt diese Sophismen, durch die man sich
der Aufgabe entziehen wolle den römischen Erbfeind durch den wiedererweckten
Geist des Evangeliums zu überwinden, der Reihe nach vor. Zunächst die
Ansicht, als müsse man um der Glaubens- und Gewissensfreiheit willen den
Katholicismus ungestört gewähren lassen. "Ohne jemals an eine gewaltsame
Beherrschung des Glaubens und Gewissens zu denken, muß der Staat doch
die Schranken der Glaubens- und Gewissensfreiheit messen an seinen eignen
Zwecken und Mitteln, und um den Glauben der Einzelnen zu beurtheilen
und zu messen, muß er selbst einen Glauben haben. Es ist irreführend, einen
Zustand Toleranz zu nennen, wo niemand weiß, wer Duldung übt oder wer
sie genießt." Ein zweites Sovhisma sei die Zauberformel "Freier Kampf
der Meinungen! bei ihm wird die Wahrheit, wenn es eine solche gibt, schon
herauskommen." Ja, auf rein theoretischem Gebiet. Aber Religion und Kirche
gehören dem Reiche der Praxis an. "Theorie kann nur über Theorie Herr
werden, nicht aber über Willkür und schädlichen Zug der Praxis: Praxis
wird nur durch Praxis gebändigt, deren dauernder Erfolg allerdings davon
abhängt, ob sie die wahre Theorie zur Lehrerin genommen." Und "es ist
der hartnäckigste Irrthum einer sogenannten Bildung, wie sie heute gäng und
gebe ist, daß das geistig Höhere durch das Niedere nicht überwältigt werden
könne, auch wenn das Erstere noch so sehr die Hände in den Schooß legt."
~- Der Staat brauche nur für guten Schulunterricht zu sorgen, meinen
Andere: die Religion nehme von selbst ab vor der wachsenden Bildung, wie
das Jagdgebiet der Rothhäute vor der Civilisation. "Keine Menschenseele
--- antwortet ihnen unser Verfasser --> wird allein von dem gelenkt, was sie
weiß; nicht einmal von dem, was sie zu wissen wähnt. Dasjenige Wissen,
das mit keinem Aberglauben, keiner sittlich-einseitigen Richtung der Religion
sich vertrüge, bringt niemals eine Schule der Menschheit bei. Und wenn die


wir dürfen nicht länger versäumen, das Ewige für unsre Gedanken zu
retten und nicht blos mit dem Organ der Empfindung aufzunehmen."

Ein siebentes Kapitel, „der Geist der Gegenwart und das kirchenpolitische
Problem", ruft uns zu der großen national-kirchlichen Aufgabe zurück. „Diese
Zeit, ungeistlich, weil sie die Einheit des geistigen Lebens verloren hat, un¬
christlich, weil das Christenthum in ihren Kirchen entweder wie eine leblose
Antiquität oder als ein sinnberückendes Herrschaftsmittel gehegt wird . . .,
diese Zeit sieht sich plötzlich vor eine Ausgabe religiöser und kirchlicher Ge¬
staltung gestellt, wie seit den Tagen der Reformation dem deutschen Volke
keine vorgelegen" ... „An eine ausgetrocknete Stätte legte Rom seinen Brand.
Da ertönt der Ruf nach unvergänglichen Wasser. Die Zeit aber, die nicht
mehr weiß, wo solches Wasser zu schöpfen, ergeht sich in den mannigfachsten
Sophismen, daß das Suchen danach thöricht und die Abwehr des Feuers
vergeblich sei." Der Verfasser nimmt diese Sophismen, durch die man sich
der Aufgabe entziehen wolle den römischen Erbfeind durch den wiedererweckten
Geist des Evangeliums zu überwinden, der Reihe nach vor. Zunächst die
Ansicht, als müsse man um der Glaubens- und Gewissensfreiheit willen den
Katholicismus ungestört gewähren lassen. „Ohne jemals an eine gewaltsame
Beherrschung des Glaubens und Gewissens zu denken, muß der Staat doch
die Schranken der Glaubens- und Gewissensfreiheit messen an seinen eignen
Zwecken und Mitteln, und um den Glauben der Einzelnen zu beurtheilen
und zu messen, muß er selbst einen Glauben haben. Es ist irreführend, einen
Zustand Toleranz zu nennen, wo niemand weiß, wer Duldung übt oder wer
sie genießt." Ein zweites Sovhisma sei die Zauberformel „Freier Kampf
der Meinungen! bei ihm wird die Wahrheit, wenn es eine solche gibt, schon
herauskommen." Ja, auf rein theoretischem Gebiet. Aber Religion und Kirche
gehören dem Reiche der Praxis an. „Theorie kann nur über Theorie Herr
werden, nicht aber über Willkür und schädlichen Zug der Praxis: Praxis
wird nur durch Praxis gebändigt, deren dauernder Erfolg allerdings davon
abhängt, ob sie die wahre Theorie zur Lehrerin genommen." Und „es ist
der hartnäckigste Irrthum einer sogenannten Bildung, wie sie heute gäng und
gebe ist, daß das geistig Höhere durch das Niedere nicht überwältigt werden
könne, auch wenn das Erstere noch so sehr die Hände in den Schooß legt."
~- Der Staat brauche nur für guten Schulunterricht zu sorgen, meinen
Andere: die Religion nehme von selbst ab vor der wachsenden Bildung, wie
das Jagdgebiet der Rothhäute vor der Civilisation. „Keine Menschenseele
—- antwortet ihnen unser Verfasser —> wird allein von dem gelenkt, was sie
weiß; nicht einmal von dem, was sie zu wissen wähnt. Dasjenige Wissen,
das mit keinem Aberglauben, keiner sittlich-einseitigen Richtung der Religion
sich vertrüge, bringt niemals eine Schule der Menschheit bei. Und wenn die


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[0209] wir dürfen nicht länger versäumen, das Ewige für unsre Gedanken zu retten und nicht blos mit dem Organ der Empfindung aufzunehmen." Ein siebentes Kapitel, „der Geist der Gegenwart und das kirchenpolitische Problem", ruft uns zu der großen national-kirchlichen Aufgabe zurück. „Diese Zeit, ungeistlich, weil sie die Einheit des geistigen Lebens verloren hat, un¬ christlich, weil das Christenthum in ihren Kirchen entweder wie eine leblose Antiquität oder als ein sinnberückendes Herrschaftsmittel gehegt wird . . ., diese Zeit sieht sich plötzlich vor eine Ausgabe religiöser und kirchlicher Ge¬ staltung gestellt, wie seit den Tagen der Reformation dem deutschen Volke keine vorgelegen" ... „An eine ausgetrocknete Stätte legte Rom seinen Brand. Da ertönt der Ruf nach unvergänglichen Wasser. Die Zeit aber, die nicht mehr weiß, wo solches Wasser zu schöpfen, ergeht sich in den mannigfachsten Sophismen, daß das Suchen danach thöricht und die Abwehr des Feuers vergeblich sei." Der Verfasser nimmt diese Sophismen, durch die man sich der Aufgabe entziehen wolle den römischen Erbfeind durch den wiedererweckten Geist des Evangeliums zu überwinden, der Reihe nach vor. Zunächst die Ansicht, als müsse man um der Glaubens- und Gewissensfreiheit willen den Katholicismus ungestört gewähren lassen. „Ohne jemals an eine gewaltsame Beherrschung des Glaubens und Gewissens zu denken, muß der Staat doch die Schranken der Glaubens- und Gewissensfreiheit messen an seinen eignen Zwecken und Mitteln, und um den Glauben der Einzelnen zu beurtheilen und zu messen, muß er selbst einen Glauben haben. Es ist irreführend, einen Zustand Toleranz zu nennen, wo niemand weiß, wer Duldung übt oder wer sie genießt." Ein zweites Sovhisma sei die Zauberformel „Freier Kampf der Meinungen! bei ihm wird die Wahrheit, wenn es eine solche gibt, schon herauskommen." Ja, auf rein theoretischem Gebiet. Aber Religion und Kirche gehören dem Reiche der Praxis an. „Theorie kann nur über Theorie Herr werden, nicht aber über Willkür und schädlichen Zug der Praxis: Praxis wird nur durch Praxis gebändigt, deren dauernder Erfolg allerdings davon abhängt, ob sie die wahre Theorie zur Lehrerin genommen." Und „es ist der hartnäckigste Irrthum einer sogenannten Bildung, wie sie heute gäng und gebe ist, daß das geistig Höhere durch das Niedere nicht überwältigt werden könne, auch wenn das Erstere noch so sehr die Hände in den Schooß legt." ~- Der Staat brauche nur für guten Schulunterricht zu sorgen, meinen Andere: die Religion nehme von selbst ab vor der wachsenden Bildung, wie das Jagdgebiet der Rothhäute vor der Civilisation. „Keine Menschenseele —- antwortet ihnen unser Verfasser —> wird allein von dem gelenkt, was sie weiß; nicht einmal von dem, was sie zu wissen wähnt. Dasjenige Wissen, das mit keinem Aberglauben, keiner sittlich-einseitigen Richtung der Religion sich vertrüge, bringt niemals eine Schule der Menschheit bei. Und wenn die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/209>, abgerufen am 27.07.2024.