Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.keit, Cynismus, Verwilderung und Indolenz gegen die großen Pflichten, welche Die Betrachtung schreitet fort zu der "Bedeutung der Glaubenslosigkeit" keit, Cynismus, Verwilderung und Indolenz gegen die großen Pflichten, welche Die Betrachtung schreitet fort zu der „Bedeutung der Glaubenslosigkeit" <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0208" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135789"/> <p xml:id="ID_692" prev="#ID_691"> keit, Cynismus, Verwilderung und Indolenz gegen die großen Pflichten, welche<lb/> das heilige Vermächtniß unserer Zeit sind, ins Unkraut schießt," werden eine<lb/> Reihe scharfsinniger, siegreicher Bemerkungen gerichtet. „Der mechanische Zu¬<lb/> fall soll die Welt aufbauen, denn nur mittelst dieses Zufalls erfolgt die Vervoll¬<lb/> kommnung der activen, immer reicher wirksamen Mechanismen. Dieser Zufall<lb/> aber zeigt ein Gesetz; er zeigt sich diesem Gesetze Unterthan, und dieses Gesetz<lb/> ist das Gesetz des Bewußtseins, während wir das Bewußtsein doch dem Zufall<lb/> verdanken sollen."</p><lb/> <p xml:id="ID_693" next="#ID_694"> Die Betrachtung schreitet fort zu der „Bedeutung der Glaubenslosigkeit"<lb/> für unsre nationale Existenz. „Die Bedeutung der Glaubenslosigkeit ist das<lb/> Absterben des höheren geistigen Lebens." Mit der Religion stirbt der Staat<lb/> ab, denn der Mensch, auch der Staat, lebt nicht vom Brod allein. Oder wo<lb/> wäre die Brücke, die von jener vielbewunderten, sich alles unterfangenden<lb/> Naturwissenschaft zu den thatsächlichen Aufgaben unseres nationalen und<lb/> socialen Lebens führte? Ueberhaupt giebt der intellectuelle Aufschwung eines<lb/> Volkes allein keine Bürgschaft, daß nicht, indem die Blüthe desselben auf¬<lb/> geht, die Wurzel verweile. „Es kommt vielmehr darauf an, daß das Gleich¬<lb/> gewicht von Erkennen und Glauben durch den Vorsprung der Schöpferkraft<lb/> des Lebens immer wieder zu Gunsten des Glaubens aufgehoben werde,<lb/> damit das einseitige Erkennen niemals im Stande sei, das unendliche Leben<lb/> und sein Symbol, den Glauben, in endliche, todte Formen zu bannen." Nun<lb/> könnte man, sich tröstend, hinzeigen auf das immer kräftiger emporsteigende<lb/> Werk des nationalen Staates, und sagen: Hier ist praktischer Idealismus, hier<lb/> ist werkthätiger Glaube; was bedarf es weiter? Aber die Schöpfer unsrer natio¬<lb/> nalen Größe verdanken ihren Glauben, ihre Opferwilligkeit einer Zeit, wo<lb/> die theoretische Bildung der Nation noch nicht der Anarchie verfallen war.<lb/> „Noch rauscht der Quell unsres nationalen Lebens in vollen Strahlen. Die<lb/> Strahlen fallen von der Höhe auf den Boden nieder und ergießen sich durch<lb/> die Ebene. Aber es kann sein, daß der Quell versiegt ist, während unten<lb/> noch die Strahlen fallen, so daß trostlose Oede der Ebene plötzlich bevorsteht."<lb/> — Allerdings findet der Verfasser in unserer Zeit wenigstens ein hervor¬<lb/> ragendes Anzeichen eines tiefen Glaubensbedürfnisses, — in der beispiellosen<lb/> Anziehungskraft, welche die geistlich gerichtete klassische Musik gerade für unsre<lb/> Generation habe. In einem einigermaßen episodischen, aber sehr anziehenden,<lb/> offenbar individueller Neigung entstammenden Kapitel sucht er die geistige<lb/> Macht der Töne psychologisch zu erklären und den christlichen Gehalt unsrer<lb/> großen Musiker zu analysiren, namentlich Johann Sebastian Bach als den<lb/> Tondichter des erfüllten Glaubens, Beethoven als den des religiösen Ringens<lb/> nachzuweisen. Aber er bekennt zugleich, daß die Musik aus die Dauer den<lb/> Dienst der religiösen Andacht isolirt nicht leisten könne: „wir müssen eilen,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0208]
keit, Cynismus, Verwilderung und Indolenz gegen die großen Pflichten, welche
das heilige Vermächtniß unserer Zeit sind, ins Unkraut schießt," werden eine
Reihe scharfsinniger, siegreicher Bemerkungen gerichtet. „Der mechanische Zu¬
fall soll die Welt aufbauen, denn nur mittelst dieses Zufalls erfolgt die Vervoll¬
kommnung der activen, immer reicher wirksamen Mechanismen. Dieser Zufall
aber zeigt ein Gesetz; er zeigt sich diesem Gesetze Unterthan, und dieses Gesetz
ist das Gesetz des Bewußtseins, während wir das Bewußtsein doch dem Zufall
verdanken sollen."
Die Betrachtung schreitet fort zu der „Bedeutung der Glaubenslosigkeit"
für unsre nationale Existenz. „Die Bedeutung der Glaubenslosigkeit ist das
Absterben des höheren geistigen Lebens." Mit der Religion stirbt der Staat
ab, denn der Mensch, auch der Staat, lebt nicht vom Brod allein. Oder wo
wäre die Brücke, die von jener vielbewunderten, sich alles unterfangenden
Naturwissenschaft zu den thatsächlichen Aufgaben unseres nationalen und
socialen Lebens führte? Ueberhaupt giebt der intellectuelle Aufschwung eines
Volkes allein keine Bürgschaft, daß nicht, indem die Blüthe desselben auf¬
geht, die Wurzel verweile. „Es kommt vielmehr darauf an, daß das Gleich¬
gewicht von Erkennen und Glauben durch den Vorsprung der Schöpferkraft
des Lebens immer wieder zu Gunsten des Glaubens aufgehoben werde,
damit das einseitige Erkennen niemals im Stande sei, das unendliche Leben
und sein Symbol, den Glauben, in endliche, todte Formen zu bannen." Nun
könnte man, sich tröstend, hinzeigen auf das immer kräftiger emporsteigende
Werk des nationalen Staates, und sagen: Hier ist praktischer Idealismus, hier
ist werkthätiger Glaube; was bedarf es weiter? Aber die Schöpfer unsrer natio¬
nalen Größe verdanken ihren Glauben, ihre Opferwilligkeit einer Zeit, wo
die theoretische Bildung der Nation noch nicht der Anarchie verfallen war.
„Noch rauscht der Quell unsres nationalen Lebens in vollen Strahlen. Die
Strahlen fallen von der Höhe auf den Boden nieder und ergießen sich durch
die Ebene. Aber es kann sein, daß der Quell versiegt ist, während unten
noch die Strahlen fallen, so daß trostlose Oede der Ebene plötzlich bevorsteht."
— Allerdings findet der Verfasser in unserer Zeit wenigstens ein hervor¬
ragendes Anzeichen eines tiefen Glaubensbedürfnisses, — in der beispiellosen
Anziehungskraft, welche die geistlich gerichtete klassische Musik gerade für unsre
Generation habe. In einem einigermaßen episodischen, aber sehr anziehenden,
offenbar individueller Neigung entstammenden Kapitel sucht er die geistige
Macht der Töne psychologisch zu erklären und den christlichen Gehalt unsrer
großen Musiker zu analysiren, namentlich Johann Sebastian Bach als den
Tondichter des erfüllten Glaubens, Beethoven als den des religiösen Ringens
nachzuweisen. Aber er bekennt zugleich, daß die Musik aus die Dauer den
Dienst der religiösen Andacht isolirt nicht leisten könne: „wir müssen eilen,
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |