Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

hat und vollbringt, sind Werke des Glaubens; dagegen liegen allerdings
in den Erscheinungen des theoretischen Lebens breite Massen des Unglau¬
bens vor, und "diese Dissonanz des theoretischen und des praktischen Thuns
ist der räthselhafte Zug unsrer Zeit, der in Deutschland am reinsten und
auffallendsten hervortritt." Die Ursachen dieses theoretischen Unglaubens
sucht der Verfasser -- vermöge einer Nichtunterscheidung zwischen allgemeinem
und religiösem Glauben, Idealismus und Frömmigkeit, welche für seine ganze
Betrachtung charakteristisch und folgenreich ist -- nicht schon im achtzehnten
Jahrhundert, das er überhaupt auf Kosten des unsrigen allzusehr zu idealisiren
^ehe, sondern erst in den Zeiten seit den Freiheitskriegen, deren Wiederer¬
weckung des religiösen Lebens in weiteren Kreisen unsrer Nation er nicht genug
in Anschlag bringt. Daß "die großen Glaubensversuche" der Zeit, die große
deutsche Poesie und Philosophie des endenden 18. und beginnenden 19. Jahr¬
hunderts cholerisch geblieben, das letzte große philosophische System, ohne Er¬
satz zu finden, zusammengebrochen, und so den geistigen Bestrebungen unsrer
Zeit jeder theoretische Mittelpunkt verloren gegangen, darauf führt er den
ungeistlichen, glaubenslosen Charakter unsrer Tage zurück. Hier ist doch jeden¬
falls die Betrachtung unsrer großen Dichtung und Philosophie unter dem
Gesichtspunkte von "Glaubensversuchen" des deutschen Geistes nicht mehr als
halbwahr; mehr Wahrheit ist darin, wenn der Verfasser den von Strauß
hervorgerufenen antichristlichen Cynismus der vierziger Jahre, dann.die zum
Praktischen Materialismus hindrängende Enttäuschung von 1848 und das
Versinken der Kirche und Theologie in geistlose Repristinationssucht für die
geistigen Zustände der Gegenwart zunächst verantwortlich macht. -- Indem
er in die Betrachtung dieser Zustände näher eingeht, erblickt er "Glaubens¬
zersetzung" auf der einen, "Glaubensverirrung" auf der anderen Seite. Unter
dem ersteren Gesichtspunkt nimmt er Act von dem Floriren der Philosophie
des Pessimismus, von den für die Gegenwart charakteristischen Erfolgen des
früher unbeachteten Schopenhauer, und den noch größeren seiner popularisiren-
den Karikatur, der Philosophie des Unbewußten. Unter dem Gesichtspunkt
der "Glaubensverirrung" stellt er -- aus einer dialektischen Laune, auch den
Unglauben, nur weil er nicht exacte Wissenschaft, sondern willkürliches Vorur¬
theil ist, als eine Species von "Glaube" zu behandeln -- den "neuen Glauben"
von Strauß und den von Häckel zu einer wilden Naturphilosophie umgebil¬
deten Darwinismus zusammen. Die hier von der Höhe einer wirklichen philo¬
sophischen Bildung an dem Strauß'schen Werke geübte Kritik gehört zu den
Mächtigsten Partieen des Buches, aus der wir nur darum Einzelnes nicht an¬
führen, weil wir nicht wüßten, welchen von diesen vernichtenden Blitzen wir
bevorzugen sollten. Aber auch gegen die Darwinistische Naturphilosophie,
"diese Lehre, die dazu angethan ist alles um sich zu sammeln, was an Niedrig-


hat und vollbringt, sind Werke des Glaubens; dagegen liegen allerdings
in den Erscheinungen des theoretischen Lebens breite Massen des Unglau¬
bens vor, und „diese Dissonanz des theoretischen und des praktischen Thuns
ist der räthselhafte Zug unsrer Zeit, der in Deutschland am reinsten und
auffallendsten hervortritt." Die Ursachen dieses theoretischen Unglaubens
sucht der Verfasser — vermöge einer Nichtunterscheidung zwischen allgemeinem
und religiösem Glauben, Idealismus und Frömmigkeit, welche für seine ganze
Betrachtung charakteristisch und folgenreich ist — nicht schon im achtzehnten
Jahrhundert, das er überhaupt auf Kosten des unsrigen allzusehr zu idealisiren
^ehe, sondern erst in den Zeiten seit den Freiheitskriegen, deren Wiederer¬
weckung des religiösen Lebens in weiteren Kreisen unsrer Nation er nicht genug
in Anschlag bringt. Daß „die großen Glaubensversuche" der Zeit, die große
deutsche Poesie und Philosophie des endenden 18. und beginnenden 19. Jahr¬
hunderts cholerisch geblieben, das letzte große philosophische System, ohne Er¬
satz zu finden, zusammengebrochen, und so den geistigen Bestrebungen unsrer
Zeit jeder theoretische Mittelpunkt verloren gegangen, darauf führt er den
ungeistlichen, glaubenslosen Charakter unsrer Tage zurück. Hier ist doch jeden¬
falls die Betrachtung unsrer großen Dichtung und Philosophie unter dem
Gesichtspunkte von „Glaubensversuchen" des deutschen Geistes nicht mehr als
halbwahr; mehr Wahrheit ist darin, wenn der Verfasser den von Strauß
hervorgerufenen antichristlichen Cynismus der vierziger Jahre, dann.die zum
Praktischen Materialismus hindrängende Enttäuschung von 1848 und das
Versinken der Kirche und Theologie in geistlose Repristinationssucht für die
geistigen Zustände der Gegenwart zunächst verantwortlich macht. — Indem
er in die Betrachtung dieser Zustände näher eingeht, erblickt er „Glaubens¬
zersetzung" auf der einen, „Glaubensverirrung" auf der anderen Seite. Unter
dem ersteren Gesichtspunkt nimmt er Act von dem Floriren der Philosophie
des Pessimismus, von den für die Gegenwart charakteristischen Erfolgen des
früher unbeachteten Schopenhauer, und den noch größeren seiner popularisiren-
den Karikatur, der Philosophie des Unbewußten. Unter dem Gesichtspunkt
der „Glaubensverirrung" stellt er — aus einer dialektischen Laune, auch den
Unglauben, nur weil er nicht exacte Wissenschaft, sondern willkürliches Vorur¬
theil ist, als eine Species von „Glaube" zu behandeln — den „neuen Glauben"
von Strauß und den von Häckel zu einer wilden Naturphilosophie umgebil¬
deten Darwinismus zusammen. Die hier von der Höhe einer wirklichen philo¬
sophischen Bildung an dem Strauß'schen Werke geübte Kritik gehört zu den
Mächtigsten Partieen des Buches, aus der wir nur darum Einzelnes nicht an¬
führen, weil wir nicht wüßten, welchen von diesen vernichtenden Blitzen wir
bevorzugen sollten. Aber auch gegen die Darwinistische Naturphilosophie,
»diese Lehre, die dazu angethan ist alles um sich zu sammeln, was an Niedrig-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0207" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135788"/>
          <p xml:id="ID_691" prev="#ID_690" next="#ID_692"> hat und vollbringt, sind Werke des Glaubens; dagegen liegen allerdings<lb/>
in den Erscheinungen des theoretischen Lebens breite Massen des Unglau¬<lb/>
bens vor, und &#x201E;diese Dissonanz des theoretischen und des praktischen Thuns<lb/>
ist der räthselhafte Zug unsrer Zeit, der in Deutschland am reinsten und<lb/>
auffallendsten hervortritt." Die Ursachen dieses theoretischen Unglaubens<lb/>
sucht der Verfasser &#x2014; vermöge einer Nichtunterscheidung zwischen allgemeinem<lb/>
und religiösem Glauben, Idealismus und Frömmigkeit, welche für seine ganze<lb/>
Betrachtung charakteristisch und folgenreich ist &#x2014; nicht schon im achtzehnten<lb/>
Jahrhundert, das er überhaupt auf Kosten des unsrigen allzusehr zu idealisiren<lb/>
^ehe, sondern erst in den Zeiten seit den Freiheitskriegen, deren Wiederer¬<lb/>
weckung des religiösen Lebens in weiteren Kreisen unsrer Nation er nicht genug<lb/>
in Anschlag bringt. Daß &#x201E;die großen Glaubensversuche" der Zeit, die große<lb/>
deutsche Poesie und Philosophie des endenden 18. und beginnenden 19. Jahr¬<lb/>
hunderts cholerisch geblieben, das letzte große philosophische System, ohne Er¬<lb/>
satz zu finden, zusammengebrochen, und so den geistigen Bestrebungen unsrer<lb/>
Zeit jeder theoretische Mittelpunkt verloren gegangen, darauf führt er den<lb/>
ungeistlichen, glaubenslosen Charakter unsrer Tage zurück. Hier ist doch jeden¬<lb/>
falls die Betrachtung unsrer großen Dichtung und Philosophie unter dem<lb/>
Gesichtspunkte von &#x201E;Glaubensversuchen" des deutschen Geistes nicht mehr als<lb/>
halbwahr; mehr Wahrheit ist darin, wenn der Verfasser den von Strauß<lb/>
hervorgerufenen antichristlichen Cynismus der vierziger Jahre, dann.die zum<lb/>
Praktischen Materialismus hindrängende Enttäuschung von 1848 und das<lb/>
Versinken der Kirche und Theologie in geistlose Repristinationssucht für die<lb/>
geistigen Zustände der Gegenwart zunächst verantwortlich macht. &#x2014; Indem<lb/>
er in die Betrachtung dieser Zustände näher eingeht, erblickt er &#x201E;Glaubens¬<lb/>
zersetzung" auf der einen, &#x201E;Glaubensverirrung" auf der anderen Seite. Unter<lb/>
dem ersteren Gesichtspunkt nimmt er Act von dem Floriren der Philosophie<lb/>
des Pessimismus, von den für die Gegenwart charakteristischen Erfolgen des<lb/>
früher unbeachteten Schopenhauer, und den noch größeren seiner popularisiren-<lb/>
den Karikatur, der Philosophie des Unbewußten. Unter dem Gesichtspunkt<lb/>
der &#x201E;Glaubensverirrung" stellt er &#x2014; aus einer dialektischen Laune, auch den<lb/>
Unglauben, nur weil er nicht exacte Wissenschaft, sondern willkürliches Vorur¬<lb/>
theil ist, als eine Species von &#x201E;Glaube" zu behandeln &#x2014; den &#x201E;neuen Glauben"<lb/>
von Strauß und den von Häckel zu einer wilden Naturphilosophie umgebil¬<lb/>
deten Darwinismus zusammen. Die hier von der Höhe einer wirklichen philo¬<lb/>
sophischen Bildung an dem Strauß'schen Werke geübte Kritik gehört zu den<lb/>
Mächtigsten Partieen des Buches, aus der wir nur darum Einzelnes nicht an¬<lb/>
führen, weil wir nicht wüßten, welchen von diesen vernichtenden Blitzen wir<lb/>
bevorzugen sollten. Aber auch gegen die Darwinistische Naturphilosophie,<lb/>
»diese Lehre, die dazu angethan ist alles um sich zu sammeln, was an Niedrig-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0207] hat und vollbringt, sind Werke des Glaubens; dagegen liegen allerdings in den Erscheinungen des theoretischen Lebens breite Massen des Unglau¬ bens vor, und „diese Dissonanz des theoretischen und des praktischen Thuns ist der räthselhafte Zug unsrer Zeit, der in Deutschland am reinsten und auffallendsten hervortritt." Die Ursachen dieses theoretischen Unglaubens sucht der Verfasser — vermöge einer Nichtunterscheidung zwischen allgemeinem und religiösem Glauben, Idealismus und Frömmigkeit, welche für seine ganze Betrachtung charakteristisch und folgenreich ist — nicht schon im achtzehnten Jahrhundert, das er überhaupt auf Kosten des unsrigen allzusehr zu idealisiren ^ehe, sondern erst in den Zeiten seit den Freiheitskriegen, deren Wiederer¬ weckung des religiösen Lebens in weiteren Kreisen unsrer Nation er nicht genug in Anschlag bringt. Daß „die großen Glaubensversuche" der Zeit, die große deutsche Poesie und Philosophie des endenden 18. und beginnenden 19. Jahr¬ hunderts cholerisch geblieben, das letzte große philosophische System, ohne Er¬ satz zu finden, zusammengebrochen, und so den geistigen Bestrebungen unsrer Zeit jeder theoretische Mittelpunkt verloren gegangen, darauf führt er den ungeistlichen, glaubenslosen Charakter unsrer Tage zurück. Hier ist doch jeden¬ falls die Betrachtung unsrer großen Dichtung und Philosophie unter dem Gesichtspunkte von „Glaubensversuchen" des deutschen Geistes nicht mehr als halbwahr; mehr Wahrheit ist darin, wenn der Verfasser den von Strauß hervorgerufenen antichristlichen Cynismus der vierziger Jahre, dann.die zum Praktischen Materialismus hindrängende Enttäuschung von 1848 und das Versinken der Kirche und Theologie in geistlose Repristinationssucht für die geistigen Zustände der Gegenwart zunächst verantwortlich macht. — Indem er in die Betrachtung dieser Zustände näher eingeht, erblickt er „Glaubens¬ zersetzung" auf der einen, „Glaubensverirrung" auf der anderen Seite. Unter dem ersteren Gesichtspunkt nimmt er Act von dem Floriren der Philosophie des Pessimismus, von den für die Gegenwart charakteristischen Erfolgen des früher unbeachteten Schopenhauer, und den noch größeren seiner popularisiren- den Karikatur, der Philosophie des Unbewußten. Unter dem Gesichtspunkt der „Glaubensverirrung" stellt er — aus einer dialektischen Laune, auch den Unglauben, nur weil er nicht exacte Wissenschaft, sondern willkürliches Vorur¬ theil ist, als eine Species von „Glaube" zu behandeln — den „neuen Glauben" von Strauß und den von Häckel zu einer wilden Naturphilosophie umgebil¬ deten Darwinismus zusammen. Die hier von der Höhe einer wirklichen philo¬ sophischen Bildung an dem Strauß'schen Werke geübte Kritik gehört zu den Mächtigsten Partieen des Buches, aus der wir nur darum Einzelnes nicht an¬ führen, weil wir nicht wüßten, welchen von diesen vernichtenden Blitzen wir bevorzugen sollten. Aber auch gegen die Darwinistische Naturphilosophie, »diese Lehre, die dazu angethan ist alles um sich zu sammeln, was an Niedrig-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/207
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/207>, abgerufen am 27.07.2024.