Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.solcher Nahrung wie Strauß' "Alter und neuer Glaube" oder Hartmann's Indem wir ernstere Freunde der Wahrheit und des Vaterlandes zur Derselbe geht aus von dem Kampfe des deutschen Reichs mit dem Papst¬ Wäre unsre Zeit eine schlechthin glaubenslose, dann wäre ihr in dew solcher Nahrung wie Strauß' „Alter und neuer Glaube" oder Hartmann's Indem wir ernstere Freunde der Wahrheit und des Vaterlandes zur Derselbe geht aus von dem Kampfe des deutschen Reichs mit dem Papst¬ Wäre unsre Zeit eine schlechthin glaubenslose, dann wäre ihr in dew <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0206" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135787"/> <p xml:id="ID_687" prev="#ID_686"> solcher Nahrung wie Strauß' „Alter und neuer Glaube" oder Hartmann's<lb/> „Philosophie des Unbewußten" einen Heißhunger; kommt ein ernster wirk¬<lb/> licher Denker, der die Geister in Zucht nimmt und ihnen ins Gewissen redet,<lb/> so hilft es ihm wenig, daß er an Höhe der Bildung, Tiefe der Gedanken,<lb/> Adel der Sprache jene falschen Propheten weit übertrifft. Es ist das von<lb/> jeher das Schicksal, aber auch das Kennzeichen der echten Propheten im Unter¬<lb/> schied von den falschen gewesen.</p><lb/> <p xml:id="ID_688"> Indem wir ernstere Freunde der Wahrheit und des Vaterlandes zur<lb/> eignen Kenntnißnahme und Erwägung des Buches anregen möchten, geben<lb/> wir zunächst eine Skizze seines Gedankenganges, in die wir einzelne Proben<lb/> der überaus gehaltvollen und formschönen Ausführung einflechten. Unsre<lb/> Einwendungen werden wir hierbei einstweilen nur wie Fragezeichen anmerken<lb/> und erst weiterhin stärker hervortreten lassen, um dann zuletzt eine etwas<lb/> eingehendere Auseinandersetzung und Verständigung mit dem verehrten Ver¬<lb/> sasser zu versuchen.</p><lb/> <p xml:id="ID_689"> Derselbe geht aus von dem Kampfe des deutschen Reichs mit dem Papst¬<lb/> thum als „der unstreitig größten Angelegenheit der politischen Welt in unsern<lb/> Tagen". Dieser Kampf, von römischer Seite längst provocirt und aus rich¬<lb/> tigem Tact des deutschen Kanzlers eben jetzt ausgenommen, hat doch seinen<lb/> letzten Grund in dem innersten Lebensgesetz der deutschen Nation. Ist die<lb/> Reformation des 16. Jahrhunderts ein unfertiges Werk geblieben lediglich<lb/> wie der Verfasser annimmt — durch die Heillosigkeit der damaligen politischen<lb/> Zustände in Deutschland, so kann die Herstellung des deutschen Staates in<lb/> der Gegenwart ein ganzes und in sich gesichertes Werk nur werden, indem<lb/> sie die Reformation nicht nur in sich aufnimmt, sondern vollendet. Mit andern<lb/> Worten: die größte Aufgabe, die das junge deutsche Reich hat, ist eine kirch¬<lb/> liche, die Aufgabe, die römische Kirche unter die Existenzbedingungen des<lb/> deutschen Staates zu beugen und dagegen die evangelische zur heilbringenden<lb/> Nationalinstitution zu erheben. Der Verfasser verbirgt sich nicht, daß dies<lb/> Letztere ein Wiedererwachen des evangelischen Glaubens im deutschen Volke<lb/> als Ganzem voraussetze. Aber er findet ein solches Wiedererwachen — und<lb/> das ist die tiefere Idee seines Buches, welche von der blos kirchenpolitischen<lb/> relativ unabhängig ist — auch ganz unerläßlich für die zu errettende Kraft<lb/> und Reinheit des deutschen Geisteslebens überhaupt.</p><lb/> <p xml:id="ID_690" next="#ID_691"> Wäre unsre Zeit eine schlechthin glaubenslose, dann wäre ihr in dew<lb/> bekannten Worte Goethe's vom Conflict des Glaubens und des Unglaubens<lb/> als dem tiefsten Problem der Weltgeschichte und von der Unfruchtbarkeit der<lb/> Zeiten, in denen der Unglaube eine kümmerliche Herrschaft behaupte (Anmer¬<lb/> kungen zum West-Oestlichen Dtvan) ihr Urtheil gesprochen. Aber was die<lb/> deutsche Nation heute an großen Ausgaben des praktischen Lebens vollbracht</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0206]
solcher Nahrung wie Strauß' „Alter und neuer Glaube" oder Hartmann's
„Philosophie des Unbewußten" einen Heißhunger; kommt ein ernster wirk¬
licher Denker, der die Geister in Zucht nimmt und ihnen ins Gewissen redet,
so hilft es ihm wenig, daß er an Höhe der Bildung, Tiefe der Gedanken,
Adel der Sprache jene falschen Propheten weit übertrifft. Es ist das von
jeher das Schicksal, aber auch das Kennzeichen der echten Propheten im Unter¬
schied von den falschen gewesen.
Indem wir ernstere Freunde der Wahrheit und des Vaterlandes zur
eignen Kenntnißnahme und Erwägung des Buches anregen möchten, geben
wir zunächst eine Skizze seines Gedankenganges, in die wir einzelne Proben
der überaus gehaltvollen und formschönen Ausführung einflechten. Unsre
Einwendungen werden wir hierbei einstweilen nur wie Fragezeichen anmerken
und erst weiterhin stärker hervortreten lassen, um dann zuletzt eine etwas
eingehendere Auseinandersetzung und Verständigung mit dem verehrten Ver¬
sasser zu versuchen.
Derselbe geht aus von dem Kampfe des deutschen Reichs mit dem Papst¬
thum als „der unstreitig größten Angelegenheit der politischen Welt in unsern
Tagen". Dieser Kampf, von römischer Seite längst provocirt und aus rich¬
tigem Tact des deutschen Kanzlers eben jetzt ausgenommen, hat doch seinen
letzten Grund in dem innersten Lebensgesetz der deutschen Nation. Ist die
Reformation des 16. Jahrhunderts ein unfertiges Werk geblieben lediglich
wie der Verfasser annimmt — durch die Heillosigkeit der damaligen politischen
Zustände in Deutschland, so kann die Herstellung des deutschen Staates in
der Gegenwart ein ganzes und in sich gesichertes Werk nur werden, indem
sie die Reformation nicht nur in sich aufnimmt, sondern vollendet. Mit andern
Worten: die größte Aufgabe, die das junge deutsche Reich hat, ist eine kirch¬
liche, die Aufgabe, die römische Kirche unter die Existenzbedingungen des
deutschen Staates zu beugen und dagegen die evangelische zur heilbringenden
Nationalinstitution zu erheben. Der Verfasser verbirgt sich nicht, daß dies
Letztere ein Wiedererwachen des evangelischen Glaubens im deutschen Volke
als Ganzem voraussetze. Aber er findet ein solches Wiedererwachen — und
das ist die tiefere Idee seines Buches, welche von der blos kirchenpolitischen
relativ unabhängig ist — auch ganz unerläßlich für die zu errettende Kraft
und Reinheit des deutschen Geisteslebens überhaupt.
Wäre unsre Zeit eine schlechthin glaubenslose, dann wäre ihr in dew
bekannten Worte Goethe's vom Conflict des Glaubens und des Unglaubens
als dem tiefsten Problem der Weltgeschichte und von der Unfruchtbarkeit der
Zeiten, in denen der Unglaube eine kümmerliche Herrschaft behaupte (Anmer¬
kungen zum West-Oestlichen Dtvan) ihr Urtheil gesprochen. Aber was die
deutsche Nation heute an großen Ausgaben des praktischen Lebens vollbracht
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