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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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damit er draußen mit den andern Kindern spielen könne. Diese aber miß-
handelten ihn, wälzten ihn im Schnee, stopften ihm die Kleider damit voll,
und die Mädchen bedeckten ihn mit Koth. So wurde der arme Knabe fort¬
während gepeinigt, und nur seine Nasenlöcher wuchsen. Zuletzt wagte er sich
hinaus in die Berge und die Einöde, um nach Anweisung seiner Pflegemutter
zu machen, daß er Kräfte erlange. Zwischen zwei hohen Bergen stehend,
rief er: "Herr der Stärke, komm heraus! Herr der Stärke, komm zu mir!"
Da erschien plötzlich ein Amarok (fabelhafter Riesenwolf mit sechs oder sieben
Füßen) und Kagsagsuk wollte davonlaufen; aber das Thier holte ihn ein,
schlang seinen Schweif um ihn und warf ihn zu Boden. Unfähig aufzustehen,
hörte er ein Geklapper und sah wie eine Anzahl Seehundsknochen aus seinem
eignen Körper fielen. "Es ist wegen dieser Knochen, daß Du nicht gewachsen
bist", sagte der Amarok. Daraus warf ihn das Thier noch zweimal mit
seinem Schwänze nieder, und jedes Mal fielen Knochen heraus, aber jedes
Mal weniger. Das vierte Mal fiel er nicht mehr hin, und als ihn das
Thier zum fünften Male faßte, sprang er flink über den Boden hin. Der
Amarok sagte nun: "Wenn Du mehr Kräfte zu erlangen wünschest, so kannst
Du jeden Tag zu mir kommen." Als Kagsagsuk heimging, kamen ihm die
Mädchen, welche die kleinen Kinder warteten, entgegen und bewarfen ihn,
wie gewöhnlich, mit Koth, und auch die Knaben schlugen und peinigten ihn
wie früher, er aber, obwohl er sich jetzt schon gewandter und stärker fühlte,
ließ es sich gefallen und schlief dann wieder bei den Hunden. Er ging später
jeden Tag zu dem Amarok und unterzog sich immer demselben Verfahren,
wodurch er immer stärker wurde, bis er zuletzt die Kräfte des Amaroks selbst
besaß. "Gut", sagte dieser jetzt, "nun ist's genug. Menschen können Dich
jetzt nicht mehr überwinden. Doch bleibe vorerst bei Deinen alten Gewohn¬
heiten. Wenn der Winter eintritt, und die See gefriert, wird die Zeit kommen,
wo Du Dich zeigen kannst." Kagsagsuk that so, und die Leute mißhandelten
ihn ärger als je. Als nun der Herbst kam, brachten die Kayaker (Schiffer in
Fellbooten) einen ungeheuren Stamm Treibholz mit, den sie zu schwer zum
Fortschaffen aus dem Lande fanden, weshalb sie ihn unten am User ließen.
Da sagte Kagsagsuk in der Nacht zu seiner Mutter: "Gieb mir Deine
Stiefeln, damit ich hinuntergehen und das große Stück Holz besehen kann."
Und als sie ihm dieselben gegeben, ging er, als Alle schliefen, hin, lud den
Stamm auf seine Schultern und trug ihn hinter das Haus, wo er ihn tief
in die Erde begrub. Am Morgen suchten die Leute vergebens nach ihrem
Stamme, und da weder Wind noch Fluth gewesen, wußten sie nicht, wie er
weggekommen, bis ihnen eine alte Frau die Stelle hinter dem Hause zeigte,
wo er sich befand. Sie wunderten sich aber sehr darüber und sagten: "Wer
kann das gethan haben. Wahrlich, es muß ein sehr starker Mann unter uns


damit er draußen mit den andern Kindern spielen könne. Diese aber miß-
handelten ihn, wälzten ihn im Schnee, stopften ihm die Kleider damit voll,
und die Mädchen bedeckten ihn mit Koth. So wurde der arme Knabe fort¬
während gepeinigt, und nur seine Nasenlöcher wuchsen. Zuletzt wagte er sich
hinaus in die Berge und die Einöde, um nach Anweisung seiner Pflegemutter
zu machen, daß er Kräfte erlange. Zwischen zwei hohen Bergen stehend,
rief er: „Herr der Stärke, komm heraus! Herr der Stärke, komm zu mir!"
Da erschien plötzlich ein Amarok (fabelhafter Riesenwolf mit sechs oder sieben
Füßen) und Kagsagsuk wollte davonlaufen; aber das Thier holte ihn ein,
schlang seinen Schweif um ihn und warf ihn zu Boden. Unfähig aufzustehen,
hörte er ein Geklapper und sah wie eine Anzahl Seehundsknochen aus seinem
eignen Körper fielen. „Es ist wegen dieser Knochen, daß Du nicht gewachsen
bist", sagte der Amarok. Daraus warf ihn das Thier noch zweimal mit
seinem Schwänze nieder, und jedes Mal fielen Knochen heraus, aber jedes
Mal weniger. Das vierte Mal fiel er nicht mehr hin, und als ihn das
Thier zum fünften Male faßte, sprang er flink über den Boden hin. Der
Amarok sagte nun: „Wenn Du mehr Kräfte zu erlangen wünschest, so kannst
Du jeden Tag zu mir kommen." Als Kagsagsuk heimging, kamen ihm die
Mädchen, welche die kleinen Kinder warteten, entgegen und bewarfen ihn,
wie gewöhnlich, mit Koth, und auch die Knaben schlugen und peinigten ihn
wie früher, er aber, obwohl er sich jetzt schon gewandter und stärker fühlte,
ließ es sich gefallen und schlief dann wieder bei den Hunden. Er ging später
jeden Tag zu dem Amarok und unterzog sich immer demselben Verfahren,
wodurch er immer stärker wurde, bis er zuletzt die Kräfte des Amaroks selbst
besaß. „Gut", sagte dieser jetzt, „nun ist's genug. Menschen können Dich
jetzt nicht mehr überwinden. Doch bleibe vorerst bei Deinen alten Gewohn¬
heiten. Wenn der Winter eintritt, und die See gefriert, wird die Zeit kommen,
wo Du Dich zeigen kannst." Kagsagsuk that so, und die Leute mißhandelten
ihn ärger als je. Als nun der Herbst kam, brachten die Kayaker (Schiffer in
Fellbooten) einen ungeheuren Stamm Treibholz mit, den sie zu schwer zum
Fortschaffen aus dem Lande fanden, weshalb sie ihn unten am User ließen.
Da sagte Kagsagsuk in der Nacht zu seiner Mutter: „Gieb mir Deine
Stiefeln, damit ich hinuntergehen und das große Stück Holz besehen kann."
Und als sie ihm dieselben gegeben, ging er, als Alle schliefen, hin, lud den
Stamm auf seine Schultern und trug ihn hinter das Haus, wo er ihn tief
in die Erde begrub. Am Morgen suchten die Leute vergebens nach ihrem
Stamme, und da weder Wind noch Fluth gewesen, wußten sie nicht, wie er
weggekommen, bis ihnen eine alte Frau die Stelle hinter dem Hause zeigte,
wo er sich befand. Sie wunderten sich aber sehr darüber und sagten: „Wer
kann das gethan haben. Wahrlich, es muß ein sehr starker Mann unter uns


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[0177] damit er draußen mit den andern Kindern spielen könne. Diese aber miß- handelten ihn, wälzten ihn im Schnee, stopften ihm die Kleider damit voll, und die Mädchen bedeckten ihn mit Koth. So wurde der arme Knabe fort¬ während gepeinigt, und nur seine Nasenlöcher wuchsen. Zuletzt wagte er sich hinaus in die Berge und die Einöde, um nach Anweisung seiner Pflegemutter zu machen, daß er Kräfte erlange. Zwischen zwei hohen Bergen stehend, rief er: „Herr der Stärke, komm heraus! Herr der Stärke, komm zu mir!" Da erschien plötzlich ein Amarok (fabelhafter Riesenwolf mit sechs oder sieben Füßen) und Kagsagsuk wollte davonlaufen; aber das Thier holte ihn ein, schlang seinen Schweif um ihn und warf ihn zu Boden. Unfähig aufzustehen, hörte er ein Geklapper und sah wie eine Anzahl Seehundsknochen aus seinem eignen Körper fielen. „Es ist wegen dieser Knochen, daß Du nicht gewachsen bist", sagte der Amarok. Daraus warf ihn das Thier noch zweimal mit seinem Schwänze nieder, und jedes Mal fielen Knochen heraus, aber jedes Mal weniger. Das vierte Mal fiel er nicht mehr hin, und als ihn das Thier zum fünften Male faßte, sprang er flink über den Boden hin. Der Amarok sagte nun: „Wenn Du mehr Kräfte zu erlangen wünschest, so kannst Du jeden Tag zu mir kommen." Als Kagsagsuk heimging, kamen ihm die Mädchen, welche die kleinen Kinder warteten, entgegen und bewarfen ihn, wie gewöhnlich, mit Koth, und auch die Knaben schlugen und peinigten ihn wie früher, er aber, obwohl er sich jetzt schon gewandter und stärker fühlte, ließ es sich gefallen und schlief dann wieder bei den Hunden. Er ging später jeden Tag zu dem Amarok und unterzog sich immer demselben Verfahren, wodurch er immer stärker wurde, bis er zuletzt die Kräfte des Amaroks selbst besaß. „Gut", sagte dieser jetzt, „nun ist's genug. Menschen können Dich jetzt nicht mehr überwinden. Doch bleibe vorerst bei Deinen alten Gewohn¬ heiten. Wenn der Winter eintritt, und die See gefriert, wird die Zeit kommen, wo Du Dich zeigen kannst." Kagsagsuk that so, und die Leute mißhandelten ihn ärger als je. Als nun der Herbst kam, brachten die Kayaker (Schiffer in Fellbooten) einen ungeheuren Stamm Treibholz mit, den sie zu schwer zum Fortschaffen aus dem Lande fanden, weshalb sie ihn unten am User ließen. Da sagte Kagsagsuk in der Nacht zu seiner Mutter: „Gieb mir Deine Stiefeln, damit ich hinuntergehen und das große Stück Holz besehen kann." Und als sie ihm dieselben gegeben, ging er, als Alle schliefen, hin, lud den Stamm auf seine Schultern und trug ihn hinter das Haus, wo er ihn tief in die Erde begrub. Am Morgen suchten die Leute vergebens nach ihrem Stamme, und da weder Wind noch Fluth gewesen, wußten sie nicht, wie er weggekommen, bis ihnen eine alte Frau die Stelle hinter dem Hause zeigte, wo er sich befand. Sie wunderten sich aber sehr darüber und sagten: „Wer kann das gethan haben. Wahrlich, es muß ein sehr starker Mann unter uns

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/177>, abgerufen am 27.07.2024.