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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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eines Fuchses. Da jede Spur hier endigte, wollte er die Erde mit den Hän¬
den aufgraben, aber bald wurde er müde und ging weg, indem er wieder
klagte: "Ach, ich armer Mann, daß ich sie nicht eher umgebracht habe." Als
sie merkte, daß er fort war, setzte sie ihre Flucht fort. Aber er begann seine
Verfolgung von Neuem, und sie versteckte sich hinter einigen Büschen. Auch
hier fand er sie nicht, und wieder jammerte er, daß er sie so lange ungefressen
gelassen habe. Als sie darauf weiter floh, traf sie Leute, welche Beeren sam¬
melten. Dieselben wollten erschrocken davon laufen, sie aber rief ihnen zu:
"Ich bin die Frau Jginarasugsük's", worauf sie stehen blieben. Es waren
Verwandte von ihr, und sie nahmen sie bei den Händen und führten sie in
ihr Haus. Hier sagte sie ihnen: "Jginarasugsuk, der seine Weiber zu fressen
pflegt, hat auch seinen Schwager gefressen. Er wird kommen und mich hier
wegholen wollen, und da er die Unterhaltung liebt, so behandelt ihn höflich
und freundlich." Bald nachher erschien er denn auch, sie aber hatte sich hinter
einem Vorhange von Fellen versteckt. Die Uebrigen standen aus und begrüßten
ihn, indem sie sagten: "Wir hoffen. Deine Leute zu Hause befinden sich wohl".
Als er eingetreten, setzten sie ihm Essen vor, und nachher gaben sie ihm eine
Trommel in die Hand und baten ihn, ihnen etwas zu singen. Er gab die
Trommel zurück, indem er sagte: "Es kommt vielmehr euch zu, mich zu unter¬
halten. Da ergriff ein Anderer die Trommel und begann zu singen: "Jgi-
narasugsuk -- der grausame Mann -- der seine Weiber fraß". . . Bei diesen
Worten wurde Jginarasugsuk roth im Gesichte und bis an den Hals hinab.
Aber als der Sänger fortfuhr: "Und er zwang sie, den Arm ihres eignen
Bruders zu essen", sprang die Frau hinter dem Borhang hervor und rief:
"Nein, das hab' ich nicht gethan, ich versteckte meinen Antheil in der Asche."
Sie ergriffen ihn darauf, und die Frau erstach ihn mit einer Lanze.

Es war einmal ein armer Waisenknabe, der Kasagsuk hieß und mit
seiner Pflegemutter bei bösen Leuten lebte, welche die Beiden nicht im Hause,
sondern in einem anstoßenden Schuppen wohnen ließen. Kasagsuk wagte
aber nicht einmal den Schuppen zu betreten, sondern schlief unter den Hunden
in dem Gange vor der Hausthür. Hier schlugen ihn die bösen Leute, wenn
sie die Schlittenhunde mit der Peitsche weckten, zugleich mit den Thieren, wo
er dann höhnisch gegen sich selbst wie ein Hund "Na nah" bellte. Wenn die
Männer drinnen Walroßbank und gefrornes Fleisch schmausten, sah ihnen der
kleine Kagsagsuk über die Schwelle gukend zu, und manchmal zogen jene ihn
in die Höhe, aber so, daß sie ihre Finger in seine Nasenlöcher steckten und
ihn daran emporhoben. So wuchsen blos seine Nasenlöcher, er aber wuchs
gar nicht. Sie gaben ihm gefrornes Fleisch ohne ein Messer, um es zu zer¬
schneiden, und bisweilen rissen sie ihm einen Zahn aus, weil er zu viel äße.
Seine arme Pflegemutter verschaffte ihm Stiefeln und einen kleinen Speer,


eines Fuchses. Da jede Spur hier endigte, wollte er die Erde mit den Hän¬
den aufgraben, aber bald wurde er müde und ging weg, indem er wieder
klagte: „Ach, ich armer Mann, daß ich sie nicht eher umgebracht habe." Als
sie merkte, daß er fort war, setzte sie ihre Flucht fort. Aber er begann seine
Verfolgung von Neuem, und sie versteckte sich hinter einigen Büschen. Auch
hier fand er sie nicht, und wieder jammerte er, daß er sie so lange ungefressen
gelassen habe. Als sie darauf weiter floh, traf sie Leute, welche Beeren sam¬
melten. Dieselben wollten erschrocken davon laufen, sie aber rief ihnen zu:
„Ich bin die Frau Jginarasugsük's", worauf sie stehen blieben. Es waren
Verwandte von ihr, und sie nahmen sie bei den Händen und führten sie in
ihr Haus. Hier sagte sie ihnen: „Jginarasugsuk, der seine Weiber zu fressen
pflegt, hat auch seinen Schwager gefressen. Er wird kommen und mich hier
wegholen wollen, und da er die Unterhaltung liebt, so behandelt ihn höflich
und freundlich." Bald nachher erschien er denn auch, sie aber hatte sich hinter
einem Vorhange von Fellen versteckt. Die Uebrigen standen aus und begrüßten
ihn, indem sie sagten: „Wir hoffen. Deine Leute zu Hause befinden sich wohl".
Als er eingetreten, setzten sie ihm Essen vor, und nachher gaben sie ihm eine
Trommel in die Hand und baten ihn, ihnen etwas zu singen. Er gab die
Trommel zurück, indem er sagte: „Es kommt vielmehr euch zu, mich zu unter¬
halten. Da ergriff ein Anderer die Trommel und begann zu singen: „Jgi-
narasugsuk — der grausame Mann — der seine Weiber fraß". . . Bei diesen
Worten wurde Jginarasugsuk roth im Gesichte und bis an den Hals hinab.
Aber als der Sänger fortfuhr: „Und er zwang sie, den Arm ihres eignen
Bruders zu essen", sprang die Frau hinter dem Borhang hervor und rief:
„Nein, das hab' ich nicht gethan, ich versteckte meinen Antheil in der Asche."
Sie ergriffen ihn darauf, und die Frau erstach ihn mit einer Lanze.

Es war einmal ein armer Waisenknabe, der Kasagsuk hieß und mit
seiner Pflegemutter bei bösen Leuten lebte, welche die Beiden nicht im Hause,
sondern in einem anstoßenden Schuppen wohnen ließen. Kasagsuk wagte
aber nicht einmal den Schuppen zu betreten, sondern schlief unter den Hunden
in dem Gange vor der Hausthür. Hier schlugen ihn die bösen Leute, wenn
sie die Schlittenhunde mit der Peitsche weckten, zugleich mit den Thieren, wo
er dann höhnisch gegen sich selbst wie ein Hund „Na nah" bellte. Wenn die
Männer drinnen Walroßbank und gefrornes Fleisch schmausten, sah ihnen der
kleine Kagsagsuk über die Schwelle gukend zu, und manchmal zogen jene ihn
in die Höhe, aber so, daß sie ihre Finger in seine Nasenlöcher steckten und
ihn daran emporhoben. So wuchsen blos seine Nasenlöcher, er aber wuchs
gar nicht. Sie gaben ihm gefrornes Fleisch ohne ein Messer, um es zu zer¬
schneiden, und bisweilen rissen sie ihm einen Zahn aus, weil er zu viel äße.
Seine arme Pflegemutter verschaffte ihm Stiefeln und einen kleinen Speer,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/176>, abgerufen am 27.07.2024.