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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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In älterer Zeit gab es Quarantaine-Anstalten gegen die Pest und das
gelbe Fieber, Verordnung über Absperrung von Menschen, die mit anstecken¬
den Krankheiten behaftet waren, über den Vertrieb von Giften, gegen den
Verkauf verfälschter Nahrungsmittel, über Behandlung Verunglückter und
Scheintodter, über Pockenimpfung, in Schulen wurden Abbildungen schädlicher
Pflanzen und Thiere vorgezeigt. Alle Maßregeln zielten aber nur auf Ab¬
wehr von acuten Krankheiten, Epidemien, raschen Todesfällen: -- Niemand
dachte daran, der Kränklichkeit, dem chronischen Siechthum entgegen- und auf
Kräftigung des heranwachsenden Geschlechts hinzuarbeiten. Daß der Cultur¬
fortschritt von so manchen. dem körperlichen Gedeihen feindlichen Elementen
begleitet war, sah man wohl, klagte darüber, that aber nichts zur Abhilfe.
Dank den Mahnungen hygieinischer Schriftsteller der neuesten Zeit fängt man
nun hier und da endlich an. einzusehen, daß unsre Schullvcale die Gesund¬
heit der Kinder vielfach schädigen und bemüht sich, Abhilfe zu schaffen: man
baut neue Häuser mit größeren, höheren, besser beleuchteten und ventilirten
Zimmern, sorgt für zweckmäßigere Banktische (Subsellien) u. s. w. Noth
thut es gewiß und es ist ein Wunder, daß die klerikalen Gegner des Schul¬
zwangs noch nicht von diesem Punkte aus die sonst so gute Sache bekämpften-
Möchten wir doch eilen, die Waffe zu zerbrechen, bevor sich der Feind ihrer
bemächtigt. Denn alle Sachkundigen stimmen darin überein, daß in den
Schulen der Grund gelegt wird zu zahllosen Brust-, Unterleibs-, Nerven¬
krankheiten, Verkrümmungen, Augenschwäche u. tgi. in.

Um in Bezug auf letztere hier nur ein Beispiel zu erwähnen: ich s^)
vor zwei Jahren die tabellarisch zusammengestellten Ergebnisse der Unter¬
suchung in einer Töchterschule, nach welcher die Kurzsichtigkeit von Klasse
Klasse in einer entsetzlichen Steigerung zunimmt. Jahrzehnte werden w^si
noch hingehen, ehe etwas Durchgreifendes geschehen ist, darum könnten und
sollten wenigstens wir Erwachsenen, Jeder in dem Kreise, in welchem er Ein-
fluß hat, streben, nach der Richtung Einiges zu thun, um frühere Begehungs-
und Unterlassungssünden möglichst wieder gut zu machen, theils um der
Kinder willen und als gutes Beispiel für sie, theils zu eignem Besten. Wie
Viele von uns denken aber daran, zu Hause Einrichtungen demgemäß zu treffen .
Anstatt die Sehweite unsrer Augen zu prüfen und hiernach beim Lesen und
Schreiben, in der Wahl von Stühlen und Tischen zu verfahren, hängen wir
schlechten Gewohnheiten nach und lassen. Alles dem Zufall anheimstellend,
Zimmerleute, Tischler, Tapezierer, Möbelhändler mit unsren Wohnungen
schalten und walten. In den öffentlichen Lesezimmern, die meist ohnehin
schon schlecht genug beleuchtet sind, pflegen die ungünstigsten Plätze mit Vor¬
liebe benutzt zu werden. In Folge dieser geistigen Kurzsichtigkeit macht die


In älterer Zeit gab es Quarantaine-Anstalten gegen die Pest und das
gelbe Fieber, Verordnung über Absperrung von Menschen, die mit anstecken¬
den Krankheiten behaftet waren, über den Vertrieb von Giften, gegen den
Verkauf verfälschter Nahrungsmittel, über Behandlung Verunglückter und
Scheintodter, über Pockenimpfung, in Schulen wurden Abbildungen schädlicher
Pflanzen und Thiere vorgezeigt. Alle Maßregeln zielten aber nur auf Ab¬
wehr von acuten Krankheiten, Epidemien, raschen Todesfällen: — Niemand
dachte daran, der Kränklichkeit, dem chronischen Siechthum entgegen- und auf
Kräftigung des heranwachsenden Geschlechts hinzuarbeiten. Daß der Cultur¬
fortschritt von so manchen. dem körperlichen Gedeihen feindlichen Elementen
begleitet war, sah man wohl, klagte darüber, that aber nichts zur Abhilfe.
Dank den Mahnungen hygieinischer Schriftsteller der neuesten Zeit fängt man
nun hier und da endlich an. einzusehen, daß unsre Schullvcale die Gesund¬
heit der Kinder vielfach schädigen und bemüht sich, Abhilfe zu schaffen: man
baut neue Häuser mit größeren, höheren, besser beleuchteten und ventilirten
Zimmern, sorgt für zweckmäßigere Banktische (Subsellien) u. s. w. Noth
thut es gewiß und es ist ein Wunder, daß die klerikalen Gegner des Schul¬
zwangs noch nicht von diesem Punkte aus die sonst so gute Sache bekämpften-
Möchten wir doch eilen, die Waffe zu zerbrechen, bevor sich der Feind ihrer
bemächtigt. Denn alle Sachkundigen stimmen darin überein, daß in den
Schulen der Grund gelegt wird zu zahllosen Brust-, Unterleibs-, Nerven¬
krankheiten, Verkrümmungen, Augenschwäche u. tgi. in.

Um in Bezug auf letztere hier nur ein Beispiel zu erwähnen: ich s^)
vor zwei Jahren die tabellarisch zusammengestellten Ergebnisse der Unter¬
suchung in einer Töchterschule, nach welcher die Kurzsichtigkeit von Klasse
Klasse in einer entsetzlichen Steigerung zunimmt. Jahrzehnte werden w^si
noch hingehen, ehe etwas Durchgreifendes geschehen ist, darum könnten und
sollten wenigstens wir Erwachsenen, Jeder in dem Kreise, in welchem er Ein-
fluß hat, streben, nach der Richtung Einiges zu thun, um frühere Begehungs-
und Unterlassungssünden möglichst wieder gut zu machen, theils um der
Kinder willen und als gutes Beispiel für sie, theils zu eignem Besten. Wie
Viele von uns denken aber daran, zu Hause Einrichtungen demgemäß zu treffen .
Anstatt die Sehweite unsrer Augen zu prüfen und hiernach beim Lesen und
Schreiben, in der Wahl von Stühlen und Tischen zu verfahren, hängen wir
schlechten Gewohnheiten nach und lassen. Alles dem Zufall anheimstellend,
Zimmerleute, Tischler, Tapezierer, Möbelhändler mit unsren Wohnungen
schalten und walten. In den öffentlichen Lesezimmern, die meist ohnehin
schon schlecht genug beleuchtet sind, pflegen die ungünstigsten Plätze mit Vor¬
liebe benutzt zu werden. In Folge dieser geistigen Kurzsichtigkeit macht die


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[0098] In älterer Zeit gab es Quarantaine-Anstalten gegen die Pest und das gelbe Fieber, Verordnung über Absperrung von Menschen, die mit anstecken¬ den Krankheiten behaftet waren, über den Vertrieb von Giften, gegen den Verkauf verfälschter Nahrungsmittel, über Behandlung Verunglückter und Scheintodter, über Pockenimpfung, in Schulen wurden Abbildungen schädlicher Pflanzen und Thiere vorgezeigt. Alle Maßregeln zielten aber nur auf Ab¬ wehr von acuten Krankheiten, Epidemien, raschen Todesfällen: — Niemand dachte daran, der Kränklichkeit, dem chronischen Siechthum entgegen- und auf Kräftigung des heranwachsenden Geschlechts hinzuarbeiten. Daß der Cultur¬ fortschritt von so manchen. dem körperlichen Gedeihen feindlichen Elementen begleitet war, sah man wohl, klagte darüber, that aber nichts zur Abhilfe. Dank den Mahnungen hygieinischer Schriftsteller der neuesten Zeit fängt man nun hier und da endlich an. einzusehen, daß unsre Schullvcale die Gesund¬ heit der Kinder vielfach schädigen und bemüht sich, Abhilfe zu schaffen: man baut neue Häuser mit größeren, höheren, besser beleuchteten und ventilirten Zimmern, sorgt für zweckmäßigere Banktische (Subsellien) u. s. w. Noth thut es gewiß und es ist ein Wunder, daß die klerikalen Gegner des Schul¬ zwangs noch nicht von diesem Punkte aus die sonst so gute Sache bekämpften- Möchten wir doch eilen, die Waffe zu zerbrechen, bevor sich der Feind ihrer bemächtigt. Denn alle Sachkundigen stimmen darin überein, daß in den Schulen der Grund gelegt wird zu zahllosen Brust-, Unterleibs-, Nerven¬ krankheiten, Verkrümmungen, Augenschwäche u. tgi. in. Um in Bezug auf letztere hier nur ein Beispiel zu erwähnen: ich s^) vor zwei Jahren die tabellarisch zusammengestellten Ergebnisse der Unter¬ suchung in einer Töchterschule, nach welcher die Kurzsichtigkeit von Klasse Klasse in einer entsetzlichen Steigerung zunimmt. Jahrzehnte werden w^si noch hingehen, ehe etwas Durchgreifendes geschehen ist, darum könnten und sollten wenigstens wir Erwachsenen, Jeder in dem Kreise, in welchem er Ein- fluß hat, streben, nach der Richtung Einiges zu thun, um frühere Begehungs- und Unterlassungssünden möglichst wieder gut zu machen, theils um der Kinder willen und als gutes Beispiel für sie, theils zu eignem Besten. Wie Viele von uns denken aber daran, zu Hause Einrichtungen demgemäß zu treffen . Anstatt die Sehweite unsrer Augen zu prüfen und hiernach beim Lesen und Schreiben, in der Wahl von Stühlen und Tischen zu verfahren, hängen wir schlechten Gewohnheiten nach und lassen. Alles dem Zufall anheimstellend, Zimmerleute, Tischler, Tapezierer, Möbelhändler mit unsren Wohnungen schalten und walten. In den öffentlichen Lesezimmern, die meist ohnehin schon schlecht genug beleuchtet sind, pflegen die ungünstigsten Plätze mit Vor¬ liebe benutzt zu werden. In Folge dieser geistigen Kurzsichtigkeit macht die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/98>, abgerufen am 23.07.2024.