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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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ward, diese Wahrheit in den verschiedenster" Tonarten, die auch ins pädago¬
gische Gebiet griffen, aber- und abermals zu wiederholen vor einem so zahl¬
reichen Leserkreise, wie er keinem andren Preßorgan zu Gebote steht.

Oft, namentlich von Aerzten, hört man Borwürfe gegen populär medi¬
cinische und anthropologische Schriften erheben, erstens, daß sie ängstliche
Gemüther zu völligen Hypochondern machten, zweitens das Vertrauen des
Publikums zu den Aerzten und zur Heilkunst überhaupt erschütterten, drittens
Halbwisserei und Dilettantismus förderten. Auf den letzten Vorwurf wäre
dasselbe zu erwidern, was sich gegen jede auf Bildung gerichtete Thätigkeit ein¬
wenden läßt: entweder müssen wir den Standpunkt der Encyklika und des
Syllabus festhalten, welcher das ganze Streben unsrer Zeit, Erkenntniß in
die unteren Volksschichten zu tragen, verwirft und für Teufelswerk erklärt,
oder wir müssen einsehen und einräumen, daß eine diesem Zeitgeist gemäße
und wirksame Thätigkeit zunächst einen Uebergangszustand schafft, der mit
allen Unzukömmlichkeiten und Gefahren eines solchen behaftet ist. Halbes
Wissen ist nur eine Brücke von der vollständigen Unwissenheit zur tüchtigen,
wünschenswerthen Bildung, eine Brücke, die betreten werden muß, weil sie
sich nicht überspringen läßt. Das Vertrauen zu der Macht der Heilkunst,
wie es noch heute den größten Theil der Masse beherrscht, ist gerade ein
Haupthinderniß der richtigen anthropologischen Erkenntniß und Gesundheits¬
pflege, nöthigt ferner die Aerzte zu tausend unwürdigen, zum Theil schäd¬
lichen Gaukeleien. Endlich läßt sich behaupten, daß die Hypochondrie in dem¬
selben Verhältnisse abnehmen muß, in welchem die Eltern lernen, ihre Kinder
gleich von der Geburt an verständiger zu behandeln und zu erziehen, und so
Schwächen und Kränklichkeiten des Körpers und Gemüths im heranwachsen¬
den Geschlechte rechtzeitig vorzubeugen. Aus diesem Grunde haben denn auch
Bock und nach ihm Andere sich bemüht, auf Mütter und Schulmänner
durch Vorlesungen und Schriften zu wirken, wie "Bau, Leben und Pflege
des menschlichen Körpers in Wort und Bild". 8. Auflage, Leipzig 1873"
und "Ueber Pflege der körperlichen und geistigen Gesundheit des Schulkinds"
bezeugen. Im erstgenannten Buche wird mitgetheilt, daß der Bildhauer
Steger in Leipzig unter Anleitung Bock's Lehrmittel aus Gips verfertigt hat,
welche die verschiedenen menschlichen Körperorgane in ihrem Bau veranschau¬
lichen. Das Schriftchen "Die österreichische Musterschule für Landgemeinden
in der Weltausstellung, im Auftrage des Comites der Schulfreunde verfaßt
vom Bezirksschulinspektor Schwab in Wien", meldet, daß jene Lehrmittel
schon in vielen österreichischen Landgemeinden eingeführt sind. Das bekannte
Wort, daß 1866 "der preußische Schulmeister den österreichischen geschlagen"
habe, scheint also an der Donau Früchte tragen zu wollen.


Grenzboten I. 1876. 12

ward, diese Wahrheit in den verschiedenster» Tonarten, die auch ins pädago¬
gische Gebiet griffen, aber- und abermals zu wiederholen vor einem so zahl¬
reichen Leserkreise, wie er keinem andren Preßorgan zu Gebote steht.

Oft, namentlich von Aerzten, hört man Borwürfe gegen populär medi¬
cinische und anthropologische Schriften erheben, erstens, daß sie ängstliche
Gemüther zu völligen Hypochondern machten, zweitens das Vertrauen des
Publikums zu den Aerzten und zur Heilkunst überhaupt erschütterten, drittens
Halbwisserei und Dilettantismus förderten. Auf den letzten Vorwurf wäre
dasselbe zu erwidern, was sich gegen jede auf Bildung gerichtete Thätigkeit ein¬
wenden läßt: entweder müssen wir den Standpunkt der Encyklika und des
Syllabus festhalten, welcher das ganze Streben unsrer Zeit, Erkenntniß in
die unteren Volksschichten zu tragen, verwirft und für Teufelswerk erklärt,
oder wir müssen einsehen und einräumen, daß eine diesem Zeitgeist gemäße
und wirksame Thätigkeit zunächst einen Uebergangszustand schafft, der mit
allen Unzukömmlichkeiten und Gefahren eines solchen behaftet ist. Halbes
Wissen ist nur eine Brücke von der vollständigen Unwissenheit zur tüchtigen,
wünschenswerthen Bildung, eine Brücke, die betreten werden muß, weil sie
sich nicht überspringen läßt. Das Vertrauen zu der Macht der Heilkunst,
wie es noch heute den größten Theil der Masse beherrscht, ist gerade ein
Haupthinderniß der richtigen anthropologischen Erkenntniß und Gesundheits¬
pflege, nöthigt ferner die Aerzte zu tausend unwürdigen, zum Theil schäd¬
lichen Gaukeleien. Endlich läßt sich behaupten, daß die Hypochondrie in dem¬
selben Verhältnisse abnehmen muß, in welchem die Eltern lernen, ihre Kinder
gleich von der Geburt an verständiger zu behandeln und zu erziehen, und so
Schwächen und Kränklichkeiten des Körpers und Gemüths im heranwachsen¬
den Geschlechte rechtzeitig vorzubeugen. Aus diesem Grunde haben denn auch
Bock und nach ihm Andere sich bemüht, auf Mütter und Schulmänner
durch Vorlesungen und Schriften zu wirken, wie „Bau, Leben und Pflege
des menschlichen Körpers in Wort und Bild". 8. Auflage, Leipzig 1873"
und „Ueber Pflege der körperlichen und geistigen Gesundheit des Schulkinds"
bezeugen. Im erstgenannten Buche wird mitgetheilt, daß der Bildhauer
Steger in Leipzig unter Anleitung Bock's Lehrmittel aus Gips verfertigt hat,
welche die verschiedenen menschlichen Körperorgane in ihrem Bau veranschau¬
lichen. Das Schriftchen „Die österreichische Musterschule für Landgemeinden
in der Weltausstellung, im Auftrage des Comites der Schulfreunde verfaßt
vom Bezirksschulinspektor Schwab in Wien", meldet, daß jene Lehrmittel
schon in vielen österreichischen Landgemeinden eingeführt sind. Das bekannte
Wort, daß 1866 „der preußische Schulmeister den österreichischen geschlagen"
habe, scheint also an der Donau Früchte tragen zu wollen.


Grenzboten I. 1876. 12
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[0097] ward, diese Wahrheit in den verschiedenster» Tonarten, die auch ins pädago¬ gische Gebiet griffen, aber- und abermals zu wiederholen vor einem so zahl¬ reichen Leserkreise, wie er keinem andren Preßorgan zu Gebote steht. Oft, namentlich von Aerzten, hört man Borwürfe gegen populär medi¬ cinische und anthropologische Schriften erheben, erstens, daß sie ängstliche Gemüther zu völligen Hypochondern machten, zweitens das Vertrauen des Publikums zu den Aerzten und zur Heilkunst überhaupt erschütterten, drittens Halbwisserei und Dilettantismus förderten. Auf den letzten Vorwurf wäre dasselbe zu erwidern, was sich gegen jede auf Bildung gerichtete Thätigkeit ein¬ wenden läßt: entweder müssen wir den Standpunkt der Encyklika und des Syllabus festhalten, welcher das ganze Streben unsrer Zeit, Erkenntniß in die unteren Volksschichten zu tragen, verwirft und für Teufelswerk erklärt, oder wir müssen einsehen und einräumen, daß eine diesem Zeitgeist gemäße und wirksame Thätigkeit zunächst einen Uebergangszustand schafft, der mit allen Unzukömmlichkeiten und Gefahren eines solchen behaftet ist. Halbes Wissen ist nur eine Brücke von der vollständigen Unwissenheit zur tüchtigen, wünschenswerthen Bildung, eine Brücke, die betreten werden muß, weil sie sich nicht überspringen läßt. Das Vertrauen zu der Macht der Heilkunst, wie es noch heute den größten Theil der Masse beherrscht, ist gerade ein Haupthinderniß der richtigen anthropologischen Erkenntniß und Gesundheits¬ pflege, nöthigt ferner die Aerzte zu tausend unwürdigen, zum Theil schäd¬ lichen Gaukeleien. Endlich läßt sich behaupten, daß die Hypochondrie in dem¬ selben Verhältnisse abnehmen muß, in welchem die Eltern lernen, ihre Kinder gleich von der Geburt an verständiger zu behandeln und zu erziehen, und so Schwächen und Kränklichkeiten des Körpers und Gemüths im heranwachsen¬ den Geschlechte rechtzeitig vorzubeugen. Aus diesem Grunde haben denn auch Bock und nach ihm Andere sich bemüht, auf Mütter und Schulmänner durch Vorlesungen und Schriften zu wirken, wie „Bau, Leben und Pflege des menschlichen Körpers in Wort und Bild". 8. Auflage, Leipzig 1873" und „Ueber Pflege der körperlichen und geistigen Gesundheit des Schulkinds" bezeugen. Im erstgenannten Buche wird mitgetheilt, daß der Bildhauer Steger in Leipzig unter Anleitung Bock's Lehrmittel aus Gips verfertigt hat, welche die verschiedenen menschlichen Körperorgane in ihrem Bau veranschau¬ lichen. Das Schriftchen „Die österreichische Musterschule für Landgemeinden in der Weltausstellung, im Auftrage des Comites der Schulfreunde verfaßt vom Bezirksschulinspektor Schwab in Wien", meldet, daß jene Lehrmittel schon in vielen österreichischen Landgemeinden eingeführt sind. Das bekannte Wort, daß 1866 „der preußische Schulmeister den österreichischen geschlagen" habe, scheint also an der Donau Früchte tragen zu wollen. Grenzboten I. 1876. 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/97>, abgerufen am 23.07.2024.