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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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erste deutsche Programmverzeichniß für 1876. ist nicht gut denkbar. Ein
Universitätslehrer sing einmal im Colleg die Empfehlung eines Schulprogramms
mit den Worten an: "Endlich habe ich Ihnen, meine Herren, noch eine
Schrift über diesen Gegenstand zu nennen; es ist zwar nur ein Schul¬
programm, indessen Das sagte er in einem Colleg, das zum größten
Theile aus künftigen Schulmännern bestand. Nun, sehr verbindlich war das
vielleicht nicht, aber Recht hatte er doch. Wir wollen das Kind keineswegs
mit dem Bade ausschütten. In einer Bibliothek, wo die Programme sorg^
faltig geordnet und in einem specialisirten Fachkatalog verzeichnet sind, wird
mancher schon in der Lage gewesen sein, einen willkommenen Beitrag zu seinen
Studien in einem abgelegenen, längst vergessenen Programm zu finden. Wo
die dicken Bücher uns sammt und sonders im Stiche lassen, da hilft uns
bisweilen ein Schulprogramm aus der Noth, ja man kann sogar sagen, daß
vielleicht manches Verkehrte, wenigstens manches Ueberflüssige nicht würde
geschrieben werden, wenn jeder sich immer die Mühe nähme, sich gründlich
auch um die in sein Thema einschlagende Programmliteratur zu kümmern.
Auch ist unläugbar eine große Summe treuen, redlichen Fleißes in unserer
Programmliteratur niedergelegt. Ein sächsischer Schulmeister, übrigens eine
Seele von einem Menschen, pflegte zu sagen, wenn es einem minderbefähigten
Abiturienten beim Maturitätsexamen an den Kragen gehen sollte: "Mthe
hat er sich gegeben, das kammer nich andersch sagen. Wir Sinn doch ooch nich
lauter Schenies!" Dies treuherzige, selbsterkenntnißvolle Wort paßt auch auf
unzählige Schulprogramme. "Mühe hat er sich gegeben!" -- das darf man ge¬
wiß den meisten nachrühmen. Mühselige Untersuchungen, die nur durch jahrelange
Concentration auf einen einzigen kleinen Punkt ausgeführt werden können, Unter¬
suchungen, zu welchen allerdings nicht viel mehr gehört, als jene
^r-^", jene ehernen Eingeweide, denen der alexandrinische Gelehrte Didymos
seinen ehrenden Beinamen verdankte, welche aber gerade deshalb von befähigter",
regsamem Köpfen gemieden werden, von fleißigen Schulmännern sind sie
ausgeführt worden, oft in sauer dem Amte abgerungenen Stunden, in denen
ihnen lieber zur eignen geistigen Erfrischung die Lectüre eines guten, anregen¬
den Buches zu gönnen gewesen wäre. Dies alles kann man bereitwilligst
zugestehen. Trotzdem kann man sich auf der andern Seite der Wahrnehmung
nicht verschließen, daß, im Ganzen betrachtet, der wissenschaftliche Werth der
Programmliteratur nicht im entferntesten im Verhältniß steht zu ihrem
riesigen Quantum. Die Programme bildeten bisher ein Kreuz fast aller
Schulbibliotheken. Hundertweise gingen sie jedes Jahr ein, die Bibliothek¬
räume waren fast überall zu knapp bemessen, um diesen endlosen Segen zu
bergen, und selten fand sich einer im Colleg, den es gelüstet hätte, alljährlich
diese Massen ordnen, gewissenhaft zu katalogisiren, in Fächer oder Kapseln


erste deutsche Programmverzeichniß für 1876. ist nicht gut denkbar. Ein
Universitätslehrer sing einmal im Colleg die Empfehlung eines Schulprogramms
mit den Worten an: „Endlich habe ich Ihnen, meine Herren, noch eine
Schrift über diesen Gegenstand zu nennen; es ist zwar nur ein Schul¬
programm, indessen Das sagte er in einem Colleg, das zum größten
Theile aus künftigen Schulmännern bestand. Nun, sehr verbindlich war das
vielleicht nicht, aber Recht hatte er doch. Wir wollen das Kind keineswegs
mit dem Bade ausschütten. In einer Bibliothek, wo die Programme sorg^
faltig geordnet und in einem specialisirten Fachkatalog verzeichnet sind, wird
mancher schon in der Lage gewesen sein, einen willkommenen Beitrag zu seinen
Studien in einem abgelegenen, längst vergessenen Programm zu finden. Wo
die dicken Bücher uns sammt und sonders im Stiche lassen, da hilft uns
bisweilen ein Schulprogramm aus der Noth, ja man kann sogar sagen, daß
vielleicht manches Verkehrte, wenigstens manches Ueberflüssige nicht würde
geschrieben werden, wenn jeder sich immer die Mühe nähme, sich gründlich
auch um die in sein Thema einschlagende Programmliteratur zu kümmern.
Auch ist unläugbar eine große Summe treuen, redlichen Fleißes in unserer
Programmliteratur niedergelegt. Ein sächsischer Schulmeister, übrigens eine
Seele von einem Menschen, pflegte zu sagen, wenn es einem minderbefähigten
Abiturienten beim Maturitätsexamen an den Kragen gehen sollte: „Mthe
hat er sich gegeben, das kammer nich andersch sagen. Wir Sinn doch ooch nich
lauter Schenies!" Dies treuherzige, selbsterkenntnißvolle Wort paßt auch auf
unzählige Schulprogramme. „Mühe hat er sich gegeben!" — das darf man ge¬
wiß den meisten nachrühmen. Mühselige Untersuchungen, die nur durch jahrelange
Concentration auf einen einzigen kleinen Punkt ausgeführt werden können, Unter¬
suchungen, zu welchen allerdings nicht viel mehr gehört, als jene
^r-^«, jene ehernen Eingeweide, denen der alexandrinische Gelehrte Didymos
seinen ehrenden Beinamen verdankte, welche aber gerade deshalb von befähigter»,
regsamem Köpfen gemieden werden, von fleißigen Schulmännern sind sie
ausgeführt worden, oft in sauer dem Amte abgerungenen Stunden, in denen
ihnen lieber zur eignen geistigen Erfrischung die Lectüre eines guten, anregen¬
den Buches zu gönnen gewesen wäre. Dies alles kann man bereitwilligst
zugestehen. Trotzdem kann man sich auf der andern Seite der Wahrnehmung
nicht verschließen, daß, im Ganzen betrachtet, der wissenschaftliche Werth der
Programmliteratur nicht im entferntesten im Verhältniß steht zu ihrem
riesigen Quantum. Die Programme bildeten bisher ein Kreuz fast aller
Schulbibliotheken. Hundertweise gingen sie jedes Jahr ein, die Bibliothek¬
räume waren fast überall zu knapp bemessen, um diesen endlosen Segen zu
bergen, und selten fand sich einer im Colleg, den es gelüstet hätte, alljährlich
diese Massen ordnen, gewissenhaft zu katalogisiren, in Fächer oder Kapseln


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/68>, abgerufen am 25.08.2024.