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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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werden, das müßte gesungen sich herrlich ausnehmen!" Aber das war doch nur
der pure Neid darüber, daß er als alter Knabe die Sanskritbuchstaben nicht
lesen kann, was natürlich jeder junge Philologe heutzutage mindestens lernt.

Aber auch die Unterrichtslehre wird fortwährend noch durch epoche¬
machende Beiträge aus der Programmliteratur bereichert. Ostern 1876
wird uns endlich einmal einer darüber aufklären, wie man denn eigentlich
"Horaz in Prima" zu tractiren habe, ein anderer darüber, wie "der lateinische
Unterricht in den obern Classen" eingerichtet werden müsse, ein dritter und
vierter werden uns die längstersehnten Aufschlüsse geben "über den griechischen
Elementarunterricht" und "über den lateinischen Unterricht in der Sexta",
und ein fünfter wird ebenfalls einem mit jedem Jahre dringender hervor¬
tretenden Bedürfnisse abhelfen und uns mit "Materialien für die Anfertigung
lateinischer Verse" beglücken. Drei Bildner der Jugend drängt es, die er¬
zieherische Seite der Schule mehr zu betonen, als das bisher geschehen; der
eine verspricht, uns zu belehren über "Schule, Vaterhaus und Publikum in
ihren gegenseitigen Beziehungen", der zweite wird "Bemerkungen über das
Verhältniß von Schule und Haus" liefern, der dritte kurz und bündig über
"Schule und Haus" schreiben. Könnten denn diese drei nicht vielleicht
noch rechtzeitig zu einer pädagogischen Conferenz zusammentreten und über
eine "identische" Abhandlung sich einigen? Das müßte eine mächtige
Wirkung thun!

Von segensreichsten Erfolge wird es jedenfalls auch begleitet sein, daß einige
ihre Ideen über Unterrichtslehre gleich ins Praktische übertragen, indem sie sich
gleichsam zurückversetzen in die Zeit, wo sie selber noch dem philologischen
Seminar oder der Prima des Gymnasiums angehörten, und nun aus ihrer
inzwischen gereiften Erkenntniß heraus einmal eine echte Seminararbeit oder
Schularbeit zum Besten haben. So wird z. B. einer eine Elegie des Tibull
erläutern, ein anderer einen Abschnitt aus den "Eumeniden" des Aeschylos
interpretiren, ein dritter ein Stück von Lesstng's "Laokoon" ins Lateinische
übersetzen, ein vierter eine Charakteristik des Cyrus nach Xenophon geben, ein
fünfter endlich -- der beliebte Scherz! -- eine Parallele ziehen nicht etwa
zwischen der Goethe'schen und der Euripideischen Iphigenie -- o nein, so
leicht macht sich unser Autor seine Sache nicht -- sondern zwischen der Medea
des Euripides, der des Seneca und der des Corneille. Wie verdienstvoll wäre
es, wenn der betreffende Schriftsteller gleich noch die Medea von Klinger, die
von Grillparzer und die von Marbach mit in seine Untersuchung hineinziehen
wollte! Sechs Medem neben einander -- so etwas wäre noch nie dagewesen.

Doch genug des Spottes. Es ist schon viel gegen den Zopf unserer
Programmliteratur geredet und geschrieben worden, aber ein überzeugenderer
Beweis dafür, wie wünschenswerth es sei, sie gänzlich abzuschaffen, als dieses


werden, das müßte gesungen sich herrlich ausnehmen!" Aber das war doch nur
der pure Neid darüber, daß er als alter Knabe die Sanskritbuchstaben nicht
lesen kann, was natürlich jeder junge Philologe heutzutage mindestens lernt.

Aber auch die Unterrichtslehre wird fortwährend noch durch epoche¬
machende Beiträge aus der Programmliteratur bereichert. Ostern 1876
wird uns endlich einmal einer darüber aufklären, wie man denn eigentlich
„Horaz in Prima" zu tractiren habe, ein anderer darüber, wie „der lateinische
Unterricht in den obern Classen" eingerichtet werden müsse, ein dritter und
vierter werden uns die längstersehnten Aufschlüsse geben „über den griechischen
Elementarunterricht" und „über den lateinischen Unterricht in der Sexta",
und ein fünfter wird ebenfalls einem mit jedem Jahre dringender hervor¬
tretenden Bedürfnisse abhelfen und uns mit „Materialien für die Anfertigung
lateinischer Verse" beglücken. Drei Bildner der Jugend drängt es, die er¬
zieherische Seite der Schule mehr zu betonen, als das bisher geschehen; der
eine verspricht, uns zu belehren über „Schule, Vaterhaus und Publikum in
ihren gegenseitigen Beziehungen", der zweite wird „Bemerkungen über das
Verhältniß von Schule und Haus" liefern, der dritte kurz und bündig über
„Schule und Haus" schreiben. Könnten denn diese drei nicht vielleicht
noch rechtzeitig zu einer pädagogischen Conferenz zusammentreten und über
eine „identische" Abhandlung sich einigen? Das müßte eine mächtige
Wirkung thun!

Von segensreichsten Erfolge wird es jedenfalls auch begleitet sein, daß einige
ihre Ideen über Unterrichtslehre gleich ins Praktische übertragen, indem sie sich
gleichsam zurückversetzen in die Zeit, wo sie selber noch dem philologischen
Seminar oder der Prima des Gymnasiums angehörten, und nun aus ihrer
inzwischen gereiften Erkenntniß heraus einmal eine echte Seminararbeit oder
Schularbeit zum Besten haben. So wird z. B. einer eine Elegie des Tibull
erläutern, ein anderer einen Abschnitt aus den „Eumeniden" des Aeschylos
interpretiren, ein dritter ein Stück von Lesstng's „Laokoon" ins Lateinische
übersetzen, ein vierter eine Charakteristik des Cyrus nach Xenophon geben, ein
fünfter endlich — der beliebte Scherz! — eine Parallele ziehen nicht etwa
zwischen der Goethe'schen und der Euripideischen Iphigenie — o nein, so
leicht macht sich unser Autor seine Sache nicht — sondern zwischen der Medea
des Euripides, der des Seneca und der des Corneille. Wie verdienstvoll wäre
es, wenn der betreffende Schriftsteller gleich noch die Medea von Klinger, die
von Grillparzer und die von Marbach mit in seine Untersuchung hineinziehen
wollte! Sechs Medem neben einander — so etwas wäre noch nie dagewesen.

Doch genug des Spottes. Es ist schon viel gegen den Zopf unserer
Programmliteratur geredet und geschrieben worden, aber ein überzeugenderer
Beweis dafür, wie wünschenswerth es sei, sie gänzlich abzuschaffen, als dieses


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/67>, abgerufen am 25.08.2024.