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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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mit Grazie in miinitum -- der Stoff ist eben unerschöpflich. Während aber
so auf der einen Seite glänzende Fortschritte gemacht werden, wird auf der
andern an altbewährten Anschauungen mit rührender Pietät festgehalten.
Wenn gelbschnäblige vovatoiöL sich heute erdreisten zu behaupten, daß Virgil
ein lederner Geselle sei. ohne jeden Funken von echter Poesie, ohne Wahr¬
heit, ohne Anschaulichkeit, und daß er von Rechtswegen aus dem Kanon der
Gymnasiallectüre gestrichen werden müsst, so kommen dort zwei aus der
guten, alten Schule, die so entzückt sind von den poetischen Schönheiten Vir-
gil's, daß der eine sich gedrungen fühlt "über die Personificationen bei
Virgil", der andere "über die Gleichnisse bei Virgil" zu schreiben. Allen
Respect vor Homer, aber so hoch darf man ihn denn doch dem Virgil gegen¬
über nicht setzen, wie das von unsern jugendlichen Heißspornen heutzutage
geschieht. Weiß man doch nicht einmal recht, woher dieses angebliche Vor¬
bild Virgil's eigentlich stammte. Smyrna, Rhodos, Kolophon, Salamin,
Chios, Argos, Athenae -- ja, ja, das ist bald auswendig gelernt, aber nächste
Ostern wird einer kommen und uns beweisen, daß der Dichter der Odyssee
ein -- Böotier war! Und das Programm, worin dieser Beweis geliefert
werden wird, erscheint nicht etwa in Bayern -- man wolle überhaupt nie
vergessen, daß Bayern an den sämmtlichen hier genannten Leistungen völlig
unschuldig ist -- sondern in Pommern!

Nicht wahr, das ärgert euch, ihr Sprachvergleicher, ihr Etymologen, ihr
Sanskritler, die ihr nie über die Formenlehre des Griechischen hinauskommt,
die ihr kaum ein halbes Capitel Anabasis mehr übersetzen könnt, ohne das
bewußte gelbe Stuttgarter Heftchen an der Seite zu haben, nicht wahr, das
ärgert euch, daß die Philologie vom alten Schlage noch in solcher Blüthe
steht? Aber beruhigt euch, auch die Saat, die ihr gesät, beginnt nachgerade
aufzugehen. Oder wären es etwa nicht die Früchte modernster Philologie, jene
geistvollen odservatiunoul^e grammatieas, die jetzt fort und fort an einzelnen
Autoren verübt werden, die den jungen Philologen aus der Universität von
seinem zweiten bis zu seinem siebenten Semester beschäftigen, als würdige
Vorbereitung auf das dereinstige Lehramt, und die bereits das Gros unsrer
philologischen Doctordissertationen bilden? Wenn einer aus dem Homer die
Infinitive herausklaubt, ein anderer aus dem Herodot die Temporal- und
Finalsätze, ein dritter aus dem griechischen Texte des neuen Testaments die
"mit mehr als einer Präposition zusammengesetzten Verba", ein vierter aus
dem Plautus die Demonstrativpronomina, ein fünfter aus Curtius Rufus die
Participia, so muß doch, dächte ich, der modernen Sprachwissenschaft das
Herz im Leibe lachen. Ein gelehrtes altes Haus meiner Bekanntschaft be¬
merkte zwar einmal höhnisch, als ihm ein solches Pröbchen modernster Sprach¬
statistik in die Hände kam: "So etwas verdiente einmal in Musik gesetzt zu


mit Grazie in miinitum — der Stoff ist eben unerschöpflich. Während aber
so auf der einen Seite glänzende Fortschritte gemacht werden, wird auf der
andern an altbewährten Anschauungen mit rührender Pietät festgehalten.
Wenn gelbschnäblige vovatoiöL sich heute erdreisten zu behaupten, daß Virgil
ein lederner Geselle sei. ohne jeden Funken von echter Poesie, ohne Wahr¬
heit, ohne Anschaulichkeit, und daß er von Rechtswegen aus dem Kanon der
Gymnasiallectüre gestrichen werden müsst, so kommen dort zwei aus der
guten, alten Schule, die so entzückt sind von den poetischen Schönheiten Vir-
gil's, daß der eine sich gedrungen fühlt „über die Personificationen bei
Virgil", der andere „über die Gleichnisse bei Virgil" zu schreiben. Allen
Respect vor Homer, aber so hoch darf man ihn denn doch dem Virgil gegen¬
über nicht setzen, wie das von unsern jugendlichen Heißspornen heutzutage
geschieht. Weiß man doch nicht einmal recht, woher dieses angebliche Vor¬
bild Virgil's eigentlich stammte. Smyrna, Rhodos, Kolophon, Salamin,
Chios, Argos, Athenae — ja, ja, das ist bald auswendig gelernt, aber nächste
Ostern wird einer kommen und uns beweisen, daß der Dichter der Odyssee
ein — Böotier war! Und das Programm, worin dieser Beweis geliefert
werden wird, erscheint nicht etwa in Bayern — man wolle überhaupt nie
vergessen, daß Bayern an den sämmtlichen hier genannten Leistungen völlig
unschuldig ist — sondern in Pommern!

Nicht wahr, das ärgert euch, ihr Sprachvergleicher, ihr Etymologen, ihr
Sanskritler, die ihr nie über die Formenlehre des Griechischen hinauskommt,
die ihr kaum ein halbes Capitel Anabasis mehr übersetzen könnt, ohne das
bewußte gelbe Stuttgarter Heftchen an der Seite zu haben, nicht wahr, das
ärgert euch, daß die Philologie vom alten Schlage noch in solcher Blüthe
steht? Aber beruhigt euch, auch die Saat, die ihr gesät, beginnt nachgerade
aufzugehen. Oder wären es etwa nicht die Früchte modernster Philologie, jene
geistvollen odservatiunoul^e grammatieas, die jetzt fort und fort an einzelnen
Autoren verübt werden, die den jungen Philologen aus der Universität von
seinem zweiten bis zu seinem siebenten Semester beschäftigen, als würdige
Vorbereitung auf das dereinstige Lehramt, und die bereits das Gros unsrer
philologischen Doctordissertationen bilden? Wenn einer aus dem Homer die
Infinitive herausklaubt, ein anderer aus dem Herodot die Temporal- und
Finalsätze, ein dritter aus dem griechischen Texte des neuen Testaments die
„mit mehr als einer Präposition zusammengesetzten Verba", ein vierter aus
dem Plautus die Demonstrativpronomina, ein fünfter aus Curtius Rufus die
Participia, so muß doch, dächte ich, der modernen Sprachwissenschaft das
Herz im Leibe lachen. Ein gelehrtes altes Haus meiner Bekanntschaft be¬
merkte zwar einmal höhnisch, als ihm ein solches Pröbchen modernster Sprach¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/66>, abgerufen am 24.08.2024.