Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

kann nicht schwarz auf weiß bewiesen werden. Und vollends in einem "Sitten¬
gemälde" darf es doch, muß es sogar städtisch, sittlich, zugehen, gerade
wie in den Dorfgeschichten ländlich, sittlich. "Alles schon dagewesen," sagte
der bekannte Rabbiner. Ach! und was erinnert in diesem Originaldrama nicht
alles an schon Dagewesenes! Sardon selber macht ja kein Hehl daraus, daß
er entlehnt, wo und woher es ihm gut scheint. Alle seine Kraftmittel sind
verbraucht, seine Effecte sind Plagiate, nur gut verwendet oder geschickt be¬
leuchtet oder frisch angestrichen, oder feiner aufgeputzt als andere vor ihm es
thaten. Gleich der Untergrund des Stückes ist ein solches Plagiat, wenn
man will -- es ist nämlich Sumpf, -- um keinen stärkeren Ausdruck zu
brauchen. Fernande, das Mädchen nämlich, ist ein liebliches, auf besagtem
Sumpf gedeihendes Blümchen (kommt in Paris und besonders bei fran¬
zösischen Schriftstellern sehr häufig vor!); es duftet übrigens neben diesen
bekannten und piquanten Odeurs besonders stark nach Camelien wenigstens
"g. Ig, äame aux eamslias", bloß daß "Fernande" nicht wie diese an der
Schwindsucht stirbt, sondern gesund und frisch in den Hafen der Ehe einläuft
um daselbst nach einer allerdings heftigen, aber zum Glück vorübergehenden
Emotion, für alle Zukunft zu verbleiben. Sie ist zwar, wie in Paris natür¬
lich, ein gefallener Engel, diese Fernande; aber sie fiel doch, der Schrift¬
steller sagt das ausdrücklich, bloß einmal, fiel durch Gewalt und unter
andern höchst mildernden Umständen, ist darum auch billigerweise voll sitt¬
licher Entrüstung gegen ihren Verführer, während ihr Gegenbild, Gräfin
Clotilde, ohne es zu merken -- ja wir behaupten, ohne daß der Dichter es selber
merkt -- die Maitresse eines Marquis Soundso ein bischen tiefer im Sumpf
steckt. Der Dichter merkt es nicht, sagen wir, denn dergleichen gehört in
Paris ja zum täglichen Brot; die hohe Dame ist ja dem Namen nach bloß
"Freundin", und kommt zu ihrem geliebten "Freunde" blos Nachts durch
eine geheime Thür; wenn sie am hellen Tage käme, ja dann wäre es aller¬
dings unverschämt, dann wär' es ein Scandal! Um das Verhältniß dieser
vollendeten Welt- (nicht äemi mvnäv) Dame zu jenem "Geschöpf" (wie die
vornehme Wohlthäterin jene arme Fernande nennt) als ihrer unbewußten
Nebenbuhlerin dreht sich das Stück, und es würde sich nicht so lange drehen,
wenn ein gewisser Brief, worin die arme Fernande ihrem Verlobten ihren
ersten und letzten Sündenfall beichtet, rechtzeitig an seine richtige Adresse ge¬
langt wäre. Dieser erwünschte, willkommene Brief (für den Autor nämlich),
dieses höchst dramatische, höchst künstlerische Mittel hilft dem Poeten glück¬
lich zu vier Akten, statt nur zu zwei und einem halben, ist also unter Brü¬
dern seine 40,000 Francs werth. Bisher waren Liaisons, wie sie hier zwischen
der Wittwe Frau Gräfin Clotilde und ihrem Amaul vorausgesetzt werden, bloß
unter der "äemi mvuäö" zu finden. Sardon hat also den Fortschritt markirt,


kann nicht schwarz auf weiß bewiesen werden. Und vollends in einem „Sitten¬
gemälde" darf es doch, muß es sogar städtisch, sittlich, zugehen, gerade
wie in den Dorfgeschichten ländlich, sittlich. „Alles schon dagewesen," sagte
der bekannte Rabbiner. Ach! und was erinnert in diesem Originaldrama nicht
alles an schon Dagewesenes! Sardon selber macht ja kein Hehl daraus, daß
er entlehnt, wo und woher es ihm gut scheint. Alle seine Kraftmittel sind
verbraucht, seine Effecte sind Plagiate, nur gut verwendet oder geschickt be¬
leuchtet oder frisch angestrichen, oder feiner aufgeputzt als andere vor ihm es
thaten. Gleich der Untergrund des Stückes ist ein solches Plagiat, wenn
man will — es ist nämlich Sumpf, — um keinen stärkeren Ausdruck zu
brauchen. Fernande, das Mädchen nämlich, ist ein liebliches, auf besagtem
Sumpf gedeihendes Blümchen (kommt in Paris und besonders bei fran¬
zösischen Schriftstellern sehr häufig vor!); es duftet übrigens neben diesen
bekannten und piquanten Odeurs besonders stark nach Camelien wenigstens
„g. Ig, äame aux eamslias", bloß daß „Fernande" nicht wie diese an der
Schwindsucht stirbt, sondern gesund und frisch in den Hafen der Ehe einläuft
um daselbst nach einer allerdings heftigen, aber zum Glück vorübergehenden
Emotion, für alle Zukunft zu verbleiben. Sie ist zwar, wie in Paris natür¬
lich, ein gefallener Engel, diese Fernande; aber sie fiel doch, der Schrift¬
steller sagt das ausdrücklich, bloß einmal, fiel durch Gewalt und unter
andern höchst mildernden Umständen, ist darum auch billigerweise voll sitt¬
licher Entrüstung gegen ihren Verführer, während ihr Gegenbild, Gräfin
Clotilde, ohne es zu merken — ja wir behaupten, ohne daß der Dichter es selber
merkt — die Maitresse eines Marquis Soundso ein bischen tiefer im Sumpf
steckt. Der Dichter merkt es nicht, sagen wir, denn dergleichen gehört in
Paris ja zum täglichen Brot; die hohe Dame ist ja dem Namen nach bloß
„Freundin", und kommt zu ihrem geliebten „Freunde" blos Nachts durch
eine geheime Thür; wenn sie am hellen Tage käme, ja dann wäre es aller¬
dings unverschämt, dann wär' es ein Scandal! Um das Verhältniß dieser
vollendeten Welt- (nicht äemi mvnäv) Dame zu jenem „Geschöpf" (wie die
vornehme Wohlthäterin jene arme Fernande nennt) als ihrer unbewußten
Nebenbuhlerin dreht sich das Stück, und es würde sich nicht so lange drehen,
wenn ein gewisser Brief, worin die arme Fernande ihrem Verlobten ihren
ersten und letzten Sündenfall beichtet, rechtzeitig an seine richtige Adresse ge¬
langt wäre. Dieser erwünschte, willkommene Brief (für den Autor nämlich),
dieses höchst dramatische, höchst künstlerische Mittel hilft dem Poeten glück¬
lich zu vier Akten, statt nur zu zwei und einem halben, ist also unter Brü¬
dern seine 40,000 Francs werth. Bisher waren Liaisons, wie sie hier zwischen
der Wittwe Frau Gräfin Clotilde und ihrem Amaul vorausgesetzt werden, bloß
unter der „äemi mvuäö" zu finden. Sardon hat also den Fortschritt markirt,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0506" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135559"/>
          <p xml:id="ID_1543" prev="#ID_1542" next="#ID_1544"> kann nicht schwarz auf weiß bewiesen werden. Und vollends in einem &#x201E;Sitten¬<lb/>
gemälde" darf es doch, muß es sogar städtisch, sittlich, zugehen, gerade<lb/>
wie in den Dorfgeschichten ländlich, sittlich. &#x201E;Alles schon dagewesen," sagte<lb/>
der bekannte Rabbiner. Ach! und was erinnert in diesem Originaldrama nicht<lb/>
alles an schon Dagewesenes! Sardon selber macht ja kein Hehl daraus, daß<lb/>
er entlehnt, wo und woher es ihm gut scheint. Alle seine Kraftmittel sind<lb/>
verbraucht, seine Effecte sind Plagiate, nur gut verwendet oder geschickt be¬<lb/>
leuchtet oder frisch angestrichen, oder feiner aufgeputzt als andere vor ihm es<lb/>
thaten. Gleich der Untergrund des Stückes ist ein solches Plagiat, wenn<lb/>
man will &#x2014; es ist nämlich Sumpf, &#x2014; um keinen stärkeren Ausdruck zu<lb/>
brauchen. Fernande, das Mädchen nämlich, ist ein liebliches, auf besagtem<lb/>
Sumpf gedeihendes Blümchen (kommt in Paris und besonders bei fran¬<lb/>
zösischen Schriftstellern sehr häufig vor!); es duftet übrigens neben diesen<lb/>
bekannten und piquanten Odeurs besonders stark nach Camelien wenigstens<lb/>
&#x201E;g. Ig, äame aux eamslias", bloß daß &#x201E;Fernande" nicht wie diese an der<lb/>
Schwindsucht stirbt, sondern gesund und frisch in den Hafen der Ehe einläuft<lb/>
um daselbst nach einer allerdings heftigen, aber zum Glück vorübergehenden<lb/>
Emotion, für alle Zukunft zu verbleiben. Sie ist zwar, wie in Paris natür¬<lb/>
lich, ein gefallener Engel, diese Fernande; aber sie fiel doch, der Schrift¬<lb/>
steller sagt das ausdrücklich, bloß einmal, fiel durch Gewalt und unter<lb/>
andern höchst mildernden Umständen, ist darum auch billigerweise voll sitt¬<lb/>
licher Entrüstung gegen ihren Verführer, während ihr Gegenbild, Gräfin<lb/>
Clotilde, ohne es zu merken &#x2014; ja wir behaupten, ohne daß der Dichter es selber<lb/>
merkt &#x2014; die Maitresse eines Marquis Soundso ein bischen tiefer im Sumpf<lb/>
steckt. Der Dichter merkt es nicht, sagen wir, denn dergleichen gehört in<lb/>
Paris ja zum täglichen Brot; die hohe Dame ist ja dem Namen nach bloß<lb/>
&#x201E;Freundin", und kommt zu ihrem geliebten &#x201E;Freunde" blos Nachts durch<lb/>
eine geheime Thür; wenn sie am hellen Tage käme, ja dann wäre es aller¬<lb/>
dings unverschämt, dann wär' es ein Scandal! Um das Verhältniß dieser<lb/>
vollendeten Welt- (nicht äemi mvnäv) Dame zu jenem &#x201E;Geschöpf" (wie die<lb/>
vornehme Wohlthäterin jene arme Fernande nennt) als ihrer unbewußten<lb/>
Nebenbuhlerin dreht sich das Stück, und es würde sich nicht so lange drehen,<lb/>
wenn ein gewisser Brief, worin die arme Fernande ihrem Verlobten ihren<lb/>
ersten und letzten Sündenfall beichtet, rechtzeitig an seine richtige Adresse ge¬<lb/>
langt wäre. Dieser erwünschte, willkommene Brief (für den Autor nämlich),<lb/>
dieses höchst dramatische, höchst künstlerische Mittel hilft dem Poeten glück¬<lb/>
lich zu vier Akten, statt nur zu zwei und einem halben, ist also unter Brü¬<lb/>
dern seine 40,000 Francs werth. Bisher waren Liaisons, wie sie hier zwischen<lb/>
der Wittwe Frau Gräfin Clotilde und ihrem Amaul vorausgesetzt werden, bloß<lb/>
unter der &#x201E;äemi mvuäö" zu finden.  Sardon hat also den Fortschritt markirt,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0506] kann nicht schwarz auf weiß bewiesen werden. Und vollends in einem „Sitten¬ gemälde" darf es doch, muß es sogar städtisch, sittlich, zugehen, gerade wie in den Dorfgeschichten ländlich, sittlich. „Alles schon dagewesen," sagte der bekannte Rabbiner. Ach! und was erinnert in diesem Originaldrama nicht alles an schon Dagewesenes! Sardon selber macht ja kein Hehl daraus, daß er entlehnt, wo und woher es ihm gut scheint. Alle seine Kraftmittel sind verbraucht, seine Effecte sind Plagiate, nur gut verwendet oder geschickt be¬ leuchtet oder frisch angestrichen, oder feiner aufgeputzt als andere vor ihm es thaten. Gleich der Untergrund des Stückes ist ein solches Plagiat, wenn man will — es ist nämlich Sumpf, — um keinen stärkeren Ausdruck zu brauchen. Fernande, das Mädchen nämlich, ist ein liebliches, auf besagtem Sumpf gedeihendes Blümchen (kommt in Paris und besonders bei fran¬ zösischen Schriftstellern sehr häufig vor!); es duftet übrigens neben diesen bekannten und piquanten Odeurs besonders stark nach Camelien wenigstens „g. Ig, äame aux eamslias", bloß daß „Fernande" nicht wie diese an der Schwindsucht stirbt, sondern gesund und frisch in den Hafen der Ehe einläuft um daselbst nach einer allerdings heftigen, aber zum Glück vorübergehenden Emotion, für alle Zukunft zu verbleiben. Sie ist zwar, wie in Paris natür¬ lich, ein gefallener Engel, diese Fernande; aber sie fiel doch, der Schrift¬ steller sagt das ausdrücklich, bloß einmal, fiel durch Gewalt und unter andern höchst mildernden Umständen, ist darum auch billigerweise voll sitt¬ licher Entrüstung gegen ihren Verführer, während ihr Gegenbild, Gräfin Clotilde, ohne es zu merken — ja wir behaupten, ohne daß der Dichter es selber merkt — die Maitresse eines Marquis Soundso ein bischen tiefer im Sumpf steckt. Der Dichter merkt es nicht, sagen wir, denn dergleichen gehört in Paris ja zum täglichen Brot; die hohe Dame ist ja dem Namen nach bloß „Freundin", und kommt zu ihrem geliebten „Freunde" blos Nachts durch eine geheime Thür; wenn sie am hellen Tage käme, ja dann wäre es aller¬ dings unverschämt, dann wär' es ein Scandal! Um das Verhältniß dieser vollendeten Welt- (nicht äemi mvnäv) Dame zu jenem „Geschöpf" (wie die vornehme Wohlthäterin jene arme Fernande nennt) als ihrer unbewußten Nebenbuhlerin dreht sich das Stück, und es würde sich nicht so lange drehen, wenn ein gewisser Brief, worin die arme Fernande ihrem Verlobten ihren ersten und letzten Sündenfall beichtet, rechtzeitig an seine richtige Adresse ge¬ langt wäre. Dieser erwünschte, willkommene Brief (für den Autor nämlich), dieses höchst dramatische, höchst künstlerische Mittel hilft dem Poeten glück¬ lich zu vier Akten, statt nur zu zwei und einem halben, ist also unter Brü¬ dern seine 40,000 Francs werth. Bisher waren Liaisons, wie sie hier zwischen der Wittwe Frau Gräfin Clotilde und ihrem Amaul vorausgesetzt werden, bloß unter der „äemi mvuäö" zu finden. Sardon hat also den Fortschritt markirt,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/506
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/506>, abgerufen am 02.07.2024.