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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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daß sie nun auch in den höchsten Regionen der wirklichen Geld- und Blut¬
aristokratie, dem goldenen und dem blauen Blut, an der Tagesordnung sind;
es wird darum wohl auch im Leben sich so verhalten und die große Nation
hätte also seit Dumas dem Kleineren "g. ig, töte Ah 1a Civilisation", einen
Schritt vorwärts gethan; denn wohlverstanden diese scheinbar so freien An¬
sichten über Ehe und Liebe wurzeln nicht etwa im Beete der Frivolität --
bewahre! Jene hochgestellten Personen sind voller Empfindlichkeit für ihre
Ehre, für ihren makellosen Ruf, sie schäumen von sittlichem Ingrimm, sobald
Andere sich in demselben Pfuhle wälzen, wie sie selbst, so pflichtvergessene
Mädchen können nur "Geschöpfe" sein! -- In Paris muß, trotz der freien
Liebe, die Eifersucht eine furchtbar acute Krankheit sein und in zartbesaite¬
ten Frauenseelen entsetzliche Verwüstungen anrichten. Clotilde ist im ersten
Akt eine Art mitleidiger Engel, im zweiten Akt aber nicht bloß eine Art
Furie, sondern eine wirkliche und leibhaftige Furie, und teufelt und digere
von nun an mit raffinirtem Rachedurst auf den Brettern umher. Die Arme!
Und der "Freund", der sie so wild macht, ist "kein Talent und kein Charakter",
und es verlohnte sich wahrlich nicht "as tairs tant <Zö bruit pour cotte
ommelette"! Hier wäre Leporello's Rath ohne Herzbrechen zu befolgen ge¬
wesen: "Schöne Donna, laßt ihn laufen, er ist eures Zorns nicht werth."
Anders aber denkt und handelt Wittib Clotilde, die oftmals gefallene, aber
darum noch immer aufrechte nächtliche "Freundin".

In den eintönigen Leierkasten der französischen Dramatik, welcher seit Jahr¬
zehnten diese einzige Weise von den gebrochenen Herzen problematischer Frauen¬
zimmerexistenzen zu orgeln verstand, sollte einmal eine neue Walze eingezogen
werden oder mindestens sollten auf die alte Walze einige neue Stifte zum Zwecke
einiger Variation kommen. --Basta! Auch in Corstka sagen sie la, wie uns
eine Person im Stücke belehrt, zu allen möglichen Dingen blos Basta. Die
Person, die das behauptet (die einzig erträgliche im ganzen Stück) ist ein junger
Advocat, der (man weiß zuerst nicht recht, warum?) in corsikanischen Scheidnngs-
procefsen, und zwar an Ort und Stelle, macht, und gerade zur rechten Stunde
zurückkommt, um -- den verhängnißvollen Brief abzufangen; das gelingt ihm
aber erst nach heißem schwerem Kampf mit der Furie -- nicht Seelenkampf,
nein, nach körperlichem, keuchenden Ringen ü, Ja Rösten und Suhrab. Auch dieser
Stift ist neu auf der dramatischen Walze und es giebt einen famosen Ton,
wenn schon die Cousine Gräfin, welcher recht eigentlich der Mund verstopft
wird, nicht schreien kann. Jetzt wissen wir auch, warum der Cousin Advocat
in Corsika gewesen sein mußte, nämlich um dort Zeuge einer ähnlichen Rache
aus verrathener Liebe zu sein, wie die wüthende Cousine sie jetzt geplant hat.
Es hieße den Dichter vollständig verkennen, wollte man ihm die Absicht
unterschieben, den jungen Ehemann von Advocaten bloß darum aus seinem


daß sie nun auch in den höchsten Regionen der wirklichen Geld- und Blut¬
aristokratie, dem goldenen und dem blauen Blut, an der Tagesordnung sind;
es wird darum wohl auch im Leben sich so verhalten und die große Nation
hätte also seit Dumas dem Kleineren „g. ig, töte Ah 1a Civilisation", einen
Schritt vorwärts gethan; denn wohlverstanden diese scheinbar so freien An¬
sichten über Ehe und Liebe wurzeln nicht etwa im Beete der Frivolität —
bewahre! Jene hochgestellten Personen sind voller Empfindlichkeit für ihre
Ehre, für ihren makellosen Ruf, sie schäumen von sittlichem Ingrimm, sobald
Andere sich in demselben Pfuhle wälzen, wie sie selbst, so pflichtvergessene
Mädchen können nur „Geschöpfe" sein! — In Paris muß, trotz der freien
Liebe, die Eifersucht eine furchtbar acute Krankheit sein und in zartbesaite¬
ten Frauenseelen entsetzliche Verwüstungen anrichten. Clotilde ist im ersten
Akt eine Art mitleidiger Engel, im zweiten Akt aber nicht bloß eine Art
Furie, sondern eine wirkliche und leibhaftige Furie, und teufelt und digere
von nun an mit raffinirtem Rachedurst auf den Brettern umher. Die Arme!
Und der „Freund", der sie so wild macht, ist „kein Talent und kein Charakter",
und es verlohnte sich wahrlich nicht „as tairs tant <Zö bruit pour cotte
ommelette"! Hier wäre Leporello's Rath ohne Herzbrechen zu befolgen ge¬
wesen: „Schöne Donna, laßt ihn laufen, er ist eures Zorns nicht werth."
Anders aber denkt und handelt Wittib Clotilde, die oftmals gefallene, aber
darum noch immer aufrechte nächtliche „Freundin".

In den eintönigen Leierkasten der französischen Dramatik, welcher seit Jahr¬
zehnten diese einzige Weise von den gebrochenen Herzen problematischer Frauen¬
zimmerexistenzen zu orgeln verstand, sollte einmal eine neue Walze eingezogen
werden oder mindestens sollten auf die alte Walze einige neue Stifte zum Zwecke
einiger Variation kommen. —Basta! Auch in Corstka sagen sie la, wie uns
eine Person im Stücke belehrt, zu allen möglichen Dingen blos Basta. Die
Person, die das behauptet (die einzig erträgliche im ganzen Stück) ist ein junger
Advocat, der (man weiß zuerst nicht recht, warum?) in corsikanischen Scheidnngs-
procefsen, und zwar an Ort und Stelle, macht, und gerade zur rechten Stunde
zurückkommt, um — den verhängnißvollen Brief abzufangen; das gelingt ihm
aber erst nach heißem schwerem Kampf mit der Furie — nicht Seelenkampf,
nein, nach körperlichem, keuchenden Ringen ü, Ja Rösten und Suhrab. Auch dieser
Stift ist neu auf der dramatischen Walze und es giebt einen famosen Ton,
wenn schon die Cousine Gräfin, welcher recht eigentlich der Mund verstopft
wird, nicht schreien kann. Jetzt wissen wir auch, warum der Cousin Advocat
in Corsika gewesen sein mußte, nämlich um dort Zeuge einer ähnlichen Rache
aus verrathener Liebe zu sein, wie die wüthende Cousine sie jetzt geplant hat.
Es hieße den Dichter vollständig verkennen, wollte man ihm die Absicht
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/507>, abgerufen am 01.07.2024.