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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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"Fernande" gehört auch zu jener Familie; sie mag etwas anständiger ge¬
kämmt, sorgfältiger gepflegt, etwas reinlicher und ein klein weniger appetit-
lich sein als ihre Schwestern und Stiefschwestern, aber sie hat das Blut (und
zwar nicht das "blaue"), sie hat den Geburth- und Taufschein, -- sie gehört
somit zur Familie und wir sind sogar überzeugt, Herr Sardon selber hält
sie nicht für das schlechteste Kind. Er hätte ihr zwar eine etwas gediegenere
Erziehung angedeihen lassen dürfen, er, der mehrfache Millionär, der zu
Mably ein fürstliches Haus führt, und, was noch mehr ist, der gebildete, ja
gelehrte Sohn eines gelehrten Professors! Ja wohl, Sardon hat vor andern
Celebritäten des Tages (-- 1s ^jour, e'oft ?aris! sagt Victor Hugo --)
den Vortheil voraus, daß er einen Schatz gediegener Kenntnisse besitzt. Lange
Zeit Lehrer der Mathematik und der Geschichte, ist er, gegen Dumas den
jüngern gehalten, der bekanntlich ein Ignorant erster Klasse ist, wenn er schon
über Goethe's "Faust", wenn auch faustdick genug, schreibt, ein wahrer Riese
an Gelehrsamkeit; er ist ferner viel productiver, d. h. phantasiereicher als
Herr Dumas, der an seinen Stücken für gewöhnlich ein halbes Jahr zu
hämmern und zu feilen hat, ehe sie salonfähig sind. Sardon braucht durch¬
schnittlich sechs Wochen und Stück für Stück bringt ihm ebenso durchschnitt¬
lich 100,000 Fr. ein. guet plaisir ä'etre autsur!" Sardon kennt das
Theater, dessen Claviatur und Tastenwerk durch und durch; seine erste Frau
war selber Schauspielerin und eine intime Freundin der berühmten De'jazet,
welche vor einigen Monaten ihre Vorstellungen auf der "Bühne des Lebens"
abgeschlossen hat. -- "Fernande" (um endlich auf unser eigentliches Thema
zu kommen) ist schon an verschiedenen deutschen Bühnen -- unter andern in
Berlin -- zur Aufführung gekommen, neulich auch, bei vorzüglicher Rollen¬
besetzung, in Basel. Der deutsche Uebersetzer, Mauthner, hat dem Kinde den
schönen Namen "Sittengemälde" gegeben.

Rührend, diese Pariser Sitten, wahrhaft rührend und instructiv zugleich,
besonders, wenn so viele "Charaktere" -- es sind, deren ohne die Bedienten
gut gezählt zwanzig -- mit einander earamboliren. Zum Glück verduften einige
dieser höchst originellen Persönlichkeiten sogleich, unter andern auch "Pfirsich¬
blüthe", die den Leser lebhaft an "Marienblüthe" (üsur ac Naris) in Eugen
Sue's "Geheimnissen von Paris" erinnert; lebhaft, ja und zwar nicht bloß
wegen des Namens, sondern auch wegen der Localität. Denn "Marienblüthe"
gedieh in einem öffentlichen Freudenhause und "Pfirsichblüthe" sammt Um¬
gebung bewegt sich im ersten Akt in einem ganz ähnlichen. Der Verfasser hat die
Naivetät gehabt den ganzen ersten Akt in einem verrufenen Haus sich abspielen zu
lassen, welches zwar dem Schein nach bloß eine Spielhölle, der Sache nach
aber doch ein Freudenhaus ist. Indessen das geht uns Leser gar nichts an, und


Grenzboten l. 1876. 63

„Fernande" gehört auch zu jener Familie; sie mag etwas anständiger ge¬
kämmt, sorgfältiger gepflegt, etwas reinlicher und ein klein weniger appetit-
lich sein als ihre Schwestern und Stiefschwestern, aber sie hat das Blut (und
zwar nicht das „blaue"), sie hat den Geburth- und Taufschein, — sie gehört
somit zur Familie und wir sind sogar überzeugt, Herr Sardon selber hält
sie nicht für das schlechteste Kind. Er hätte ihr zwar eine etwas gediegenere
Erziehung angedeihen lassen dürfen, er, der mehrfache Millionär, der zu
Mably ein fürstliches Haus führt, und, was noch mehr ist, der gebildete, ja
gelehrte Sohn eines gelehrten Professors! Ja wohl, Sardon hat vor andern
Celebritäten des Tages (— 1s ^jour, e'oft ?aris! sagt Victor Hugo —)
den Vortheil voraus, daß er einen Schatz gediegener Kenntnisse besitzt. Lange
Zeit Lehrer der Mathematik und der Geschichte, ist er, gegen Dumas den
jüngern gehalten, der bekanntlich ein Ignorant erster Klasse ist, wenn er schon
über Goethe's „Faust", wenn auch faustdick genug, schreibt, ein wahrer Riese
an Gelehrsamkeit; er ist ferner viel productiver, d. h. phantasiereicher als
Herr Dumas, der an seinen Stücken für gewöhnlich ein halbes Jahr zu
hämmern und zu feilen hat, ehe sie salonfähig sind. Sardon braucht durch¬
schnittlich sechs Wochen und Stück für Stück bringt ihm ebenso durchschnitt¬
lich 100,000 Fr. ein. guet plaisir ä'etre autsur!" Sardon kennt das
Theater, dessen Claviatur und Tastenwerk durch und durch; seine erste Frau
war selber Schauspielerin und eine intime Freundin der berühmten De'jazet,
welche vor einigen Monaten ihre Vorstellungen auf der „Bühne des Lebens"
abgeschlossen hat. — „Fernande" (um endlich auf unser eigentliches Thema
zu kommen) ist schon an verschiedenen deutschen Bühnen — unter andern in
Berlin — zur Aufführung gekommen, neulich auch, bei vorzüglicher Rollen¬
besetzung, in Basel. Der deutsche Uebersetzer, Mauthner, hat dem Kinde den
schönen Namen „Sittengemälde" gegeben.

Rührend, diese Pariser Sitten, wahrhaft rührend und instructiv zugleich,
besonders, wenn so viele „Charaktere" — es sind, deren ohne die Bedienten
gut gezählt zwanzig — mit einander earamboliren. Zum Glück verduften einige
dieser höchst originellen Persönlichkeiten sogleich, unter andern auch „Pfirsich¬
blüthe", die den Leser lebhaft an „Marienblüthe" (üsur ac Naris) in Eugen
Sue's „Geheimnissen von Paris" erinnert; lebhaft, ja und zwar nicht bloß
wegen des Namens, sondern auch wegen der Localität. Denn „Marienblüthe"
gedieh in einem öffentlichen Freudenhause und „Pfirsichblüthe" sammt Um¬
gebung bewegt sich im ersten Akt in einem ganz ähnlichen. Der Verfasser hat die
Naivetät gehabt den ganzen ersten Akt in einem verrufenen Haus sich abspielen zu
lassen, welches zwar dem Schein nach bloß eine Spielhölle, der Sache nach
aber doch ein Freudenhaus ist. Indessen das geht uns Leser gar nichts an, und


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[0505] „Fernande" gehört auch zu jener Familie; sie mag etwas anständiger ge¬ kämmt, sorgfältiger gepflegt, etwas reinlicher und ein klein weniger appetit- lich sein als ihre Schwestern und Stiefschwestern, aber sie hat das Blut (und zwar nicht das „blaue"), sie hat den Geburth- und Taufschein, — sie gehört somit zur Familie und wir sind sogar überzeugt, Herr Sardon selber hält sie nicht für das schlechteste Kind. Er hätte ihr zwar eine etwas gediegenere Erziehung angedeihen lassen dürfen, er, der mehrfache Millionär, der zu Mably ein fürstliches Haus führt, und, was noch mehr ist, der gebildete, ja gelehrte Sohn eines gelehrten Professors! Ja wohl, Sardon hat vor andern Celebritäten des Tages (— 1s ^jour, e'oft ?aris! sagt Victor Hugo —) den Vortheil voraus, daß er einen Schatz gediegener Kenntnisse besitzt. Lange Zeit Lehrer der Mathematik und der Geschichte, ist er, gegen Dumas den jüngern gehalten, der bekanntlich ein Ignorant erster Klasse ist, wenn er schon über Goethe's „Faust", wenn auch faustdick genug, schreibt, ein wahrer Riese an Gelehrsamkeit; er ist ferner viel productiver, d. h. phantasiereicher als Herr Dumas, der an seinen Stücken für gewöhnlich ein halbes Jahr zu hämmern und zu feilen hat, ehe sie salonfähig sind. Sardon braucht durch¬ schnittlich sechs Wochen und Stück für Stück bringt ihm ebenso durchschnitt¬ lich 100,000 Fr. ein. guet plaisir ä'etre autsur!" Sardon kennt das Theater, dessen Claviatur und Tastenwerk durch und durch; seine erste Frau war selber Schauspielerin und eine intime Freundin der berühmten De'jazet, welche vor einigen Monaten ihre Vorstellungen auf der „Bühne des Lebens" abgeschlossen hat. — „Fernande" (um endlich auf unser eigentliches Thema zu kommen) ist schon an verschiedenen deutschen Bühnen — unter andern in Berlin — zur Aufführung gekommen, neulich auch, bei vorzüglicher Rollen¬ besetzung, in Basel. Der deutsche Uebersetzer, Mauthner, hat dem Kinde den schönen Namen „Sittengemälde" gegeben. Rührend, diese Pariser Sitten, wahrhaft rührend und instructiv zugleich, besonders, wenn so viele „Charaktere" — es sind, deren ohne die Bedienten gut gezählt zwanzig — mit einander earamboliren. Zum Glück verduften einige dieser höchst originellen Persönlichkeiten sogleich, unter andern auch „Pfirsich¬ blüthe", die den Leser lebhaft an „Marienblüthe" (üsur ac Naris) in Eugen Sue's „Geheimnissen von Paris" erinnert; lebhaft, ja und zwar nicht bloß wegen des Namens, sondern auch wegen der Localität. Denn „Marienblüthe" gedieh in einem öffentlichen Freudenhause und „Pfirsichblüthe" sammt Um¬ gebung bewegt sich im ersten Akt in einem ganz ähnlichen. Der Verfasser hat die Naivetät gehabt den ganzen ersten Akt in einem verrufenen Haus sich abspielen zu lassen, welches zwar dem Schein nach bloß eine Spielhölle, der Sache nach aber doch ein Freudenhaus ist. Indessen das geht uns Leser gar nichts an, und Grenzboten l. 1876. 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/505>, abgerufen am 22.07.2024.