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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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deutscher Auffassung am klarsten zur Anschauung bringt. Wenn wir sagen:
eines der besten, so wollen wir diesen Begriff als relativ angesehen
wissen, denn als gut, nach unserer künstlerischen ästhetischen Anschauung,
können wir keines der Dramen dieser Mache, trotz ihrer Zugkraft, trotz ihrer
theilweise vortrefflichen Technik, bezeichnen, mag nun ihr Vater Dumas Sohn
oder Sardon oder wie sonst heißen. Aber gerade um der Grundfarbe willen,
die dem Fabrikat eigen ist, um der ganzen Atmosphäre willen, in welcher
jene Stücke athmen und gedeihen, verdienen sie als Zeichen der Zeit, ja, man
darf sagen, als Signale der Cultur, Beachtung. Und zwar jene "Fernande"
noch viel mehr als die "pattss 6s moueks" oder die "kannte Lönotton"
des vielgenannten Verfassers. Man hat seine Manier für weniger cynisch und
unmoralisch gehalten als die seines Rivalen Alex. Dumas junior, schon darum,
weil Sardon wenigstens von der Heuchelei nichts weiß oder nichts wissen will,
welche Herrn Dumas bereits zur zweiten Natur geworden ist, der Heuchelei
nämlich, die gröbste oder die raffinirteste Unsittlichkeit für einen Feldzug zu
Ehren der Tugend auszugeben. Ein curioser, wirklich curioser Heiliger, der
Ritter Dumas: Er malt die Corruption, die Wollust mit den verführerischsten
Farben und zwar ohne das bekannte Gegengift der Weimarer, ohne den
Appendix des Teufels -- und thut, als ob jene von ihm geschilderten Laster
schon das richtige Tugendrezept in sich selber trügen, wahrscheinlich weil ja er,
der hochsittliche Autor Schilderer jener frivolen Scenen mit und ohne Feigen¬
blatt ist. Manchmal passirt es ihm freilich, daß er ein wenig aus der Rolle
fällt -- yug,llävyuk horas dormitat Koniörus -- und vergißt seinem "reeixs"
den richtigen Titel giebt. "Unser Publicum riskirt einzuschlafen, und darum
müssen wir Schriftsteller es "edktouiller" -- sagt er einmal, und eben
aus dieser Stelle guckt mehr als der bloße Pferdefuß hervor; "nous 1s tenonL"
heißt es bekanntlich in "liobsrt 1s äiabls". Ueber diese Tendenz der heutigen
französischen Literatur, welche im Drama wie im Roman sich unverhüllt breit
macht, hat ein Franzose selber, Potvin vor zwei oder drei Jahren (in seiner
"corruption litter. en Kranes") ein strenges, aber gerechtes Gericht gehalten,
und auch die größten Namen, die Sand, A. de Musset, Balzac u. a., nicht
geschont: wie sollte er gegenüber den kleinern Göttern oder Götzen des Tages,
einem Dumas junior, Feydeau, Feuillee u. s. w. zurückhaltender sein? Er hat
dort die "chimärischen Gestalten der tugendhaften Verbrecher, und der pro-
stituirten Madonnen", jene "Giboyers" und "Fanny's" sammt Sippe mit
kräftigen Strichen auf die Fläche gemalt. Von Dumas sagt er, er habe "nur
das Laster beobachtet und nur Ungeheuer geschaffen"; Sardon geht, so viel
mir erinnerlich, leer aus! Hat ihn der Verfasser vielleicht nur aus seinem
"Rabagas" gekannt, jenem seiner Zeit viel genannten politischen Tendenzstück,
welches die republikanischen Aventuriers geißelte? So viel ist gewiß, die


deutscher Auffassung am klarsten zur Anschauung bringt. Wenn wir sagen:
eines der besten, so wollen wir diesen Begriff als relativ angesehen
wissen, denn als gut, nach unserer künstlerischen ästhetischen Anschauung,
können wir keines der Dramen dieser Mache, trotz ihrer Zugkraft, trotz ihrer
theilweise vortrefflichen Technik, bezeichnen, mag nun ihr Vater Dumas Sohn
oder Sardon oder wie sonst heißen. Aber gerade um der Grundfarbe willen,
die dem Fabrikat eigen ist, um der ganzen Atmosphäre willen, in welcher
jene Stücke athmen und gedeihen, verdienen sie als Zeichen der Zeit, ja, man
darf sagen, als Signale der Cultur, Beachtung. Und zwar jene „Fernande"
noch viel mehr als die „pattss 6s moueks" oder die „kannte Lönotton"
des vielgenannten Verfassers. Man hat seine Manier für weniger cynisch und
unmoralisch gehalten als die seines Rivalen Alex. Dumas junior, schon darum,
weil Sardon wenigstens von der Heuchelei nichts weiß oder nichts wissen will,
welche Herrn Dumas bereits zur zweiten Natur geworden ist, der Heuchelei
nämlich, die gröbste oder die raffinirteste Unsittlichkeit für einen Feldzug zu
Ehren der Tugend auszugeben. Ein curioser, wirklich curioser Heiliger, der
Ritter Dumas: Er malt die Corruption, die Wollust mit den verführerischsten
Farben und zwar ohne das bekannte Gegengift der Weimarer, ohne den
Appendix des Teufels — und thut, als ob jene von ihm geschilderten Laster
schon das richtige Tugendrezept in sich selber trügen, wahrscheinlich weil ja er,
der hochsittliche Autor Schilderer jener frivolen Scenen mit und ohne Feigen¬
blatt ist. Manchmal passirt es ihm freilich, daß er ein wenig aus der Rolle
fällt — yug,llävyuk horas dormitat Koniörus — und vergißt seinem „reeixs"
den richtigen Titel giebt. „Unser Publicum riskirt einzuschlafen, und darum
müssen wir Schriftsteller es „edktouiller" — sagt er einmal, und eben
aus dieser Stelle guckt mehr als der bloße Pferdefuß hervor; „nous 1s tenonL"
heißt es bekanntlich in „liobsrt 1s äiabls". Ueber diese Tendenz der heutigen
französischen Literatur, welche im Drama wie im Roman sich unverhüllt breit
macht, hat ein Franzose selber, Potvin vor zwei oder drei Jahren (in seiner
„corruption litter. en Kranes") ein strenges, aber gerechtes Gericht gehalten,
und auch die größten Namen, die Sand, A. de Musset, Balzac u. a., nicht
geschont: wie sollte er gegenüber den kleinern Göttern oder Götzen des Tages,
einem Dumas junior, Feydeau, Feuillee u. s. w. zurückhaltender sein? Er hat
dort die „chimärischen Gestalten der tugendhaften Verbrecher, und der pro-
stituirten Madonnen", jene „Giboyers" und „Fanny's" sammt Sippe mit
kräftigen Strichen auf die Fläche gemalt. Von Dumas sagt er, er habe „nur
das Laster beobachtet und nur Ungeheuer geschaffen"; Sardon geht, so viel
mir erinnerlich, leer aus! Hat ihn der Verfasser vielleicht nur aus seinem
„Rabagas" gekannt, jenem seiner Zeit viel genannten politischen Tendenzstück,
welches die republikanischen Aventuriers geißelte? So viel ist gewiß, die


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[0504] deutscher Auffassung am klarsten zur Anschauung bringt. Wenn wir sagen: eines der besten, so wollen wir diesen Begriff als relativ angesehen wissen, denn als gut, nach unserer künstlerischen ästhetischen Anschauung, können wir keines der Dramen dieser Mache, trotz ihrer Zugkraft, trotz ihrer theilweise vortrefflichen Technik, bezeichnen, mag nun ihr Vater Dumas Sohn oder Sardon oder wie sonst heißen. Aber gerade um der Grundfarbe willen, die dem Fabrikat eigen ist, um der ganzen Atmosphäre willen, in welcher jene Stücke athmen und gedeihen, verdienen sie als Zeichen der Zeit, ja, man darf sagen, als Signale der Cultur, Beachtung. Und zwar jene „Fernande" noch viel mehr als die „pattss 6s moueks" oder die „kannte Lönotton" des vielgenannten Verfassers. Man hat seine Manier für weniger cynisch und unmoralisch gehalten als die seines Rivalen Alex. Dumas junior, schon darum, weil Sardon wenigstens von der Heuchelei nichts weiß oder nichts wissen will, welche Herrn Dumas bereits zur zweiten Natur geworden ist, der Heuchelei nämlich, die gröbste oder die raffinirteste Unsittlichkeit für einen Feldzug zu Ehren der Tugend auszugeben. Ein curioser, wirklich curioser Heiliger, der Ritter Dumas: Er malt die Corruption, die Wollust mit den verführerischsten Farben und zwar ohne das bekannte Gegengift der Weimarer, ohne den Appendix des Teufels — und thut, als ob jene von ihm geschilderten Laster schon das richtige Tugendrezept in sich selber trügen, wahrscheinlich weil ja er, der hochsittliche Autor Schilderer jener frivolen Scenen mit und ohne Feigen¬ blatt ist. Manchmal passirt es ihm freilich, daß er ein wenig aus der Rolle fällt — yug,llävyuk horas dormitat Koniörus — und vergißt seinem „reeixs" den richtigen Titel giebt. „Unser Publicum riskirt einzuschlafen, und darum müssen wir Schriftsteller es „edktouiller" — sagt er einmal, und eben aus dieser Stelle guckt mehr als der bloße Pferdefuß hervor; „nous 1s tenonL" heißt es bekanntlich in „liobsrt 1s äiabls". Ueber diese Tendenz der heutigen französischen Literatur, welche im Drama wie im Roman sich unverhüllt breit macht, hat ein Franzose selber, Potvin vor zwei oder drei Jahren (in seiner „corruption litter. en Kranes") ein strenges, aber gerechtes Gericht gehalten, und auch die größten Namen, die Sand, A. de Musset, Balzac u. a., nicht geschont: wie sollte er gegenüber den kleinern Göttern oder Götzen des Tages, einem Dumas junior, Feydeau, Feuillee u. s. w. zurückhaltender sein? Er hat dort die „chimärischen Gestalten der tugendhaften Verbrecher, und der pro- stituirten Madonnen", jene „Giboyers" und „Fanny's" sammt Sippe mit kräftigen Strichen auf die Fläche gemalt. Von Dumas sagt er, er habe „nur das Laster beobachtet und nur Ungeheuer geschaffen"; Sardon geht, so viel mir erinnerlich, leer aus! Hat ihn der Verfasser vielleicht nur aus seinem „Rabagas" gekannt, jenem seiner Zeit viel genannten politischen Tendenzstück, welches die republikanischen Aventuriers geißelte? So viel ist gewiß, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/504>, abgerufen am 24.08.2024.