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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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muß geradezu die Augen verschließen und nicht sehen wollen, wenn man die
Annexion Deutschlands und Frankreichs an Rom als den einzigen Weg be¬
zeichnet, auf welchem diesen Ländern die christliche Cultur vermittelt und ge¬
sichert werden konnte. Eine ganze Wolke edler und treuer Evangelisten war
namentlich in Deutschland wirksam, um den christlichen Glauben einzuführen,
ohne dabei die Sitten einer fremden Kirche und eines andern Landes aufzu-
nöthigen." Bonifacius war in seiner Art ein Ideal und, wenn man will,
ein Heros. Sein Auftreten und seine Erfolge in deutschen Landen aber
waren -- mit Verlaub des Herrn Bischofs von Mainz -- ein schweres Un¬
glück für unser Volk. "Der heilige Pirmin, der Apostel des deutschen Süd¬
westens, vor ihm Ruprecht, Corbinian, Fridolin, gleichzeitig mit ihm Cle¬
mens und warum nicht auch die so arg verleumdeten Aldebert und Samson
-- das waren Kräfte, welche bewiesen, daß das Christenthum auch damals
noch andere und den nordischen Völkern angemessenere Formen hatte, als die¬
jenigen, welche von Rom als die alleinseligmachenden angepriesen und aufge¬
drungen worden sind. Nachdem die deutsche Mission, welche gerade seit dem
Anfange des achten Jahrhunderts in großem Aufschwünge war, mit List und
Gewalt untergraben, zerstreut und vernichtet worden, ist es geradezu eine ab¬
scheuliche Frage: Woher anders hätten die Deutschen zu Christen werden sol¬
len als durch Rom und seinen Legaten Bonifacius?" -- Was hat dieser
denn erstrebt und durchgesetzt? "Nichts anderes als die Einführung des
hierarchischen Systems, die Verschmelzung mit Rom und die Proclamirung
des canonischen Rechts. Das Christenthum der fränkischen Kirche, ihren
Glauben, ihre Lehre, ihre Religion hat er weder zu tadeln noch zu verbessern
gedacht, lediglich um Aeußerlichkeiten, um Kirchenverfassung und Rechtsord¬
nungen handelte es sich bei ihm." -- Ganz dasselbe gilt auch von der bay¬
rischen Kirche. In diesen Gebieten war das Christenthum seit Jahrhunderten
schon vorhanden, es gab da ein geregeltes Gemeindeleben, man hatte eine
bischöfliche Ordnung, es herrschte christliche Sitte. Daß Manches mangelhaft
war, ist nicht zu leugnen, aber war denn etwa das Werk des Bonifacius
untadelhaft? Die Aufnöthigung des römischen Primates und des römischen
Rechtes -- hier die einzige Leistung des "Apostels der Deutschen" -- machte aus
den Franken und Bayern keineswegs bessere Christen und glücklichere Menschen,
vielmehr beförderte sie jene Veräußerlichung der Religion und jene Entartung
des Christenthums, unter welcher die Welt noch heute leidet.


Die heilige Familie. Von Corvin. Bern, Verlag von B. F. Haller. 1876.

Eine Art Geschichte des Lebens Jesu mit einigen Zuthaten über Legenden
und Reliquien der römisch-katholischen Kirche. Dem Verfasser fehlen nicht
weniger als alle Erfordernisse zur erfolgreichen und werthvollen Durchführung


muß geradezu die Augen verschließen und nicht sehen wollen, wenn man die
Annexion Deutschlands und Frankreichs an Rom als den einzigen Weg be¬
zeichnet, auf welchem diesen Ländern die christliche Cultur vermittelt und ge¬
sichert werden konnte. Eine ganze Wolke edler und treuer Evangelisten war
namentlich in Deutschland wirksam, um den christlichen Glauben einzuführen,
ohne dabei die Sitten einer fremden Kirche und eines andern Landes aufzu-
nöthigen." Bonifacius war in seiner Art ein Ideal und, wenn man will,
ein Heros. Sein Auftreten und seine Erfolge in deutschen Landen aber
waren — mit Verlaub des Herrn Bischofs von Mainz — ein schweres Un¬
glück für unser Volk. „Der heilige Pirmin, der Apostel des deutschen Süd¬
westens, vor ihm Ruprecht, Corbinian, Fridolin, gleichzeitig mit ihm Cle¬
mens und warum nicht auch die so arg verleumdeten Aldebert und Samson
— das waren Kräfte, welche bewiesen, daß das Christenthum auch damals
noch andere und den nordischen Völkern angemessenere Formen hatte, als die¬
jenigen, welche von Rom als die alleinseligmachenden angepriesen und aufge¬
drungen worden sind. Nachdem die deutsche Mission, welche gerade seit dem
Anfange des achten Jahrhunderts in großem Aufschwünge war, mit List und
Gewalt untergraben, zerstreut und vernichtet worden, ist es geradezu eine ab¬
scheuliche Frage: Woher anders hätten die Deutschen zu Christen werden sol¬
len als durch Rom und seinen Legaten Bonifacius?" — Was hat dieser
denn erstrebt und durchgesetzt? „Nichts anderes als die Einführung des
hierarchischen Systems, die Verschmelzung mit Rom und die Proclamirung
des canonischen Rechts. Das Christenthum der fränkischen Kirche, ihren
Glauben, ihre Lehre, ihre Religion hat er weder zu tadeln noch zu verbessern
gedacht, lediglich um Aeußerlichkeiten, um Kirchenverfassung und Rechtsord¬
nungen handelte es sich bei ihm." — Ganz dasselbe gilt auch von der bay¬
rischen Kirche. In diesen Gebieten war das Christenthum seit Jahrhunderten
schon vorhanden, es gab da ein geregeltes Gemeindeleben, man hatte eine
bischöfliche Ordnung, es herrschte christliche Sitte. Daß Manches mangelhaft
war, ist nicht zu leugnen, aber war denn etwa das Werk des Bonifacius
untadelhaft? Die Aufnöthigung des römischen Primates und des römischen
Rechtes — hier die einzige Leistung des „Apostels der Deutschen" — machte aus
den Franken und Bayern keineswegs bessere Christen und glücklichere Menschen,
vielmehr beförderte sie jene Veräußerlichung der Religion und jene Entartung
des Christenthums, unter welcher die Welt noch heute leidet.


Die heilige Familie. Von Corvin. Bern, Verlag von B. F. Haller. 1876.

Eine Art Geschichte des Lebens Jesu mit einigen Zuthaten über Legenden
und Reliquien der römisch-katholischen Kirche. Dem Verfasser fehlen nicht
weniger als alle Erfordernisse zur erfolgreichen und werthvollen Durchführung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/486>, abgerufen am 02.07.2024.