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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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aus dem Münchner Künstlerkranz ausgebrochen: Clara Ziegler, Johanna Meyer
und Christen. In manchen Stücken sind diese noch unersetzt: mit ihnen
waren Vorstellungen wie die Nibelungen, Iphigenie, Minna von Barnhelm,
Faust, Egmont und viele andere geradezu einzigartig. Um nur Eines noch
zu nennen: Hebbel's "Maria Magdalena" in München zu sehen war ein
seltener Genuß. Der alte Tischler ist eine Meisterschöpfung Dahn's, Leonhard
eine solche Possart's, jede Rolle war vollendet durchgeführt, aber die Palme
des Abends gebührte jedesmal der Darstellerin der Clara, Johanna Meyer.
Uns war oft unerklärlich, warum die Künstlerin gerade diese, eigentlich so ab¬
stoßende Rolle, mit solcher Vorliebe spielte. Aber sie spielte sie, wie alles,
was dieses wunderbare Mädchen vorführte, bis ins kleinste Detail hinein
vollendet und ergreifend wahr und schön. Johanna Meyer war der Liebling
des Münchner Publikums, sie ist diesem unvergessen und -- unersetzt. Possart
hatte Recht, als er an jenem Pfinstmontag 1874 an dem Grabe der so
jäh mitten aus dem schönsten, schaffensfreudigsten Leben herausgerissenen
Collegin sprach: "das Leben giebt für keinen Todten Ersatz. Die Kunst
wiederholt sich nicht in ihren Jüngern. Der geniale Funke, welcher das
Genie vom Talent unterscheidet, jenes kleine Stückchen Gottesgnadenthum,
das sich in jeder künstlerischen Individualität so eigenartig ausprägt, wird
nur einmal geboren. Wie wir mit Sophie Schröder die siegende Macht des
Wortes begruben, wie wir mit Vater Jost die Urwüchsigkeit der Gestaltungs¬
gabe in die Erde senkten, so haben wir heute die tief und rein empfindende
Weiblichkeit des Münchner Schauspiels zu Grabe getragen."

Den, welcher wohl der bedeutendste Repräsentant des Münchner Schau¬
spiels ist, haben wir oben genannt: Ernst Possart. An genialer Begabung,
äußern Mitteln, rastlosem Fleiße und vor allem scharfsinnigen, wir möchten
fast sagen, mikroskopischem Studium seiner Rollen kommt ihm keiner seiner
Genossen gleich. Man kann mit der Auffassung mancher selner Charaktere
nicht einverstanden sein, aber man muß ihm dann wenigstens Originalität,
bis auf den letzten Punkt consequente Durchführung zugestehen. Possart
ruft in mehr als einer Rolle die großen Traditionen Seydelmann's, Eßlair's,
L. Devrient's wach. Als Heldendarsteller entzückt Rüthling durch seine präch¬
tige Erscheinung, sein volles Organ und die Wärme und Innigkeit seines
Spiels den Zuhörer. Wer einmal seinen Siegfried gesehen, kann sich kein
anderes Bild des minniglichen Recken mehr machen. Eine der lieblichsten
Erscheinungen der Hofbühne ist heute noch Frau Dahn-Hausmann, die auch
jede ihrer mannigfachen Rollen mit echtem, wahrem Künstlergeist durchdringt.
Für Clara Ziegler, die in unversöhnlichem Groll dem Hause, dessen selbst¬
bewußte Königin sie einst war, den Rücken gewandt hat, ist in Frl. Tischik,
die sich jenseits des Oceans zu dem, was sie ist, ausgebildet, eine würdige


aus dem Münchner Künstlerkranz ausgebrochen: Clara Ziegler, Johanna Meyer
und Christen. In manchen Stücken sind diese noch unersetzt: mit ihnen
waren Vorstellungen wie die Nibelungen, Iphigenie, Minna von Barnhelm,
Faust, Egmont und viele andere geradezu einzigartig. Um nur Eines noch
zu nennen: Hebbel's „Maria Magdalena" in München zu sehen war ein
seltener Genuß. Der alte Tischler ist eine Meisterschöpfung Dahn's, Leonhard
eine solche Possart's, jede Rolle war vollendet durchgeführt, aber die Palme
des Abends gebührte jedesmal der Darstellerin der Clara, Johanna Meyer.
Uns war oft unerklärlich, warum die Künstlerin gerade diese, eigentlich so ab¬
stoßende Rolle, mit solcher Vorliebe spielte. Aber sie spielte sie, wie alles,
was dieses wunderbare Mädchen vorführte, bis ins kleinste Detail hinein
vollendet und ergreifend wahr und schön. Johanna Meyer war der Liebling
des Münchner Publikums, sie ist diesem unvergessen und — unersetzt. Possart
hatte Recht, als er an jenem Pfinstmontag 1874 an dem Grabe der so
jäh mitten aus dem schönsten, schaffensfreudigsten Leben herausgerissenen
Collegin sprach: „das Leben giebt für keinen Todten Ersatz. Die Kunst
wiederholt sich nicht in ihren Jüngern. Der geniale Funke, welcher das
Genie vom Talent unterscheidet, jenes kleine Stückchen Gottesgnadenthum,
das sich in jeder künstlerischen Individualität so eigenartig ausprägt, wird
nur einmal geboren. Wie wir mit Sophie Schröder die siegende Macht des
Wortes begruben, wie wir mit Vater Jost die Urwüchsigkeit der Gestaltungs¬
gabe in die Erde senkten, so haben wir heute die tief und rein empfindende
Weiblichkeit des Münchner Schauspiels zu Grabe getragen."

Den, welcher wohl der bedeutendste Repräsentant des Münchner Schau¬
spiels ist, haben wir oben genannt: Ernst Possart. An genialer Begabung,
äußern Mitteln, rastlosem Fleiße und vor allem scharfsinnigen, wir möchten
fast sagen, mikroskopischem Studium seiner Rollen kommt ihm keiner seiner
Genossen gleich. Man kann mit der Auffassung mancher selner Charaktere
nicht einverstanden sein, aber man muß ihm dann wenigstens Originalität,
bis auf den letzten Punkt consequente Durchführung zugestehen. Possart
ruft in mehr als einer Rolle die großen Traditionen Seydelmann's, Eßlair's,
L. Devrient's wach. Als Heldendarsteller entzückt Rüthling durch seine präch¬
tige Erscheinung, sein volles Organ und die Wärme und Innigkeit seines
Spiels den Zuhörer. Wer einmal seinen Siegfried gesehen, kann sich kein
anderes Bild des minniglichen Recken mehr machen. Eine der lieblichsten
Erscheinungen der Hofbühne ist heute noch Frau Dahn-Hausmann, die auch
jede ihrer mannigfachen Rollen mit echtem, wahrem Künstlergeist durchdringt.
Für Clara Ziegler, die in unversöhnlichem Groll dem Hause, dessen selbst¬
bewußte Königin sie einst war, den Rücken gewandt hat, ist in Frl. Tischik,
die sich jenseits des Oceans zu dem, was sie ist, ausgebildet, eine würdige


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/44>, abgerufen am 26.09.2024.