Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

seine Freiheit noch einige Monate genießen und das Leben in vollen Zügen
schlürfen. Er lernt in Homburg am Spieltisch eine Frau kennen, die ihn
völlig einnimmt. Sie ist eine Deutsche, von Geburt Aristokratin. aber radical,
Wittwe und nicht jung mehr, aber noch immer schön und anmuthig und dabei
geistreich und witzig. Daß sie am grünen Tisch spielt, davon zum Theil lebt
und überhaupt einen starken Zug von Abenteuerlichkeit an sich hat, ficht ihn
nicht an. Daß sie eine herzlose Kockette ist, nur darauf bedacht, sich geltend
zu machen, und sich auf Kosten Anderer Emotionen zu verschaffen, bleibt ihm
verborgen. Er verliebt sich in sie, glaubt sich wieder geliebt und erwartet,
nachdem er ihr seine Hand angetragen, ihr Jawort, wird aber, als er es schon
zu haben wähnt, in der letzten Stunde von ihr auf eine Weise zurückge¬
wiesen, die ihn fast in Wahnsinn stürzt. Sie hat nur mit ihm gespielt, ihn
studirt, ein Experiment mit ihm angestellt. Er ist ihr etwas Neues gewesen,
"er ist so entzückend harmlos", sagt sie zu dem Verfasser, als er sie im In¬
teresse seines Freundes zu sondiren versucht. "Wenn in diesem dummen alten
Deutschland ein junger Mann unschuldig ist. so ist er ein Dummkopf, so hat
er kein Gehirn, so ist er nicht ein bischen interessant. Aber Herr Pickering
sagt die naivsten Dinge, und nachdem ich fünf Minuten über ihre Einfalt
gelacht habe, fällt mir plötzlich ein, daß sie sehr klug sind, und ich überlege sie
mir eine ganze Woche lang." Der Zustand des armen Eugen ist, nachdem
sie ihm, ohne daß er irgend welchen Grund dazu gegeben, die Thür gewiesen
hat, überaus kläglich, aber der Eindruck, den er auf uns macht, wird durch
einen komischen Zug gemildert. Wir bedauern ihn lächelnd und freuen uns
schließlich, daß er in der von seinem Vater ihm aufgezwungenen Verlobten
wahre Liebenswürdigkeit kennen lernt.

"Die Madonna der Zukunft", wie sich die vierte unserer Novellen
nennt, spielt in Florenz und ist die Geschichte eines amerikanischen Malers,
der, obwohl künstlerisch nicht ohne Begabung und stark in der Theorie seiner
Kunst, es vor lauter Studiren nicht zur Ausführung des großen Madonnen¬
bildes, das ihm vorschwebt, zu bringen vermag. Zwei Jahrzehnte oder länger
hat Theobald begeistert gestrebt und gesprochen, aber nichts gemalt, sondern
neben seiner Phantasie nur seinen Stolz genährt. Die amerikanische Colonie
in Florenz hat eine Zeit lang an ihn geglaubt, ihn aber, als das Meister¬
werk, von dem er träumt und predigt, gar nicht zum Vorschein kommen will,
aufgegeben. Er lernt einen Landsmann, der neu in die Stadt kommt, kennen
und gewinnt sich ihn zum Freunde. Er wird so vertraut mit ihm, daß er
ihn bei einer Freundin, welche er als das Vorbild seiner Madonna bezeichnet
hat, einführt, und siehe da, die Dame ist -- vor zwanzig Jahren schön ge¬
wesen, jetzt aber ein dickgewordenes und nebenher nichts weniger als ideal


seine Freiheit noch einige Monate genießen und das Leben in vollen Zügen
schlürfen. Er lernt in Homburg am Spieltisch eine Frau kennen, die ihn
völlig einnimmt. Sie ist eine Deutsche, von Geburt Aristokratin. aber radical,
Wittwe und nicht jung mehr, aber noch immer schön und anmuthig und dabei
geistreich und witzig. Daß sie am grünen Tisch spielt, davon zum Theil lebt
und überhaupt einen starken Zug von Abenteuerlichkeit an sich hat, ficht ihn
nicht an. Daß sie eine herzlose Kockette ist, nur darauf bedacht, sich geltend
zu machen, und sich auf Kosten Anderer Emotionen zu verschaffen, bleibt ihm
verborgen. Er verliebt sich in sie, glaubt sich wieder geliebt und erwartet,
nachdem er ihr seine Hand angetragen, ihr Jawort, wird aber, als er es schon
zu haben wähnt, in der letzten Stunde von ihr auf eine Weise zurückge¬
wiesen, die ihn fast in Wahnsinn stürzt. Sie hat nur mit ihm gespielt, ihn
studirt, ein Experiment mit ihm angestellt. Er ist ihr etwas Neues gewesen,
„er ist so entzückend harmlos", sagt sie zu dem Verfasser, als er sie im In¬
teresse seines Freundes zu sondiren versucht. „Wenn in diesem dummen alten
Deutschland ein junger Mann unschuldig ist. so ist er ein Dummkopf, so hat
er kein Gehirn, so ist er nicht ein bischen interessant. Aber Herr Pickering
sagt die naivsten Dinge, und nachdem ich fünf Minuten über ihre Einfalt
gelacht habe, fällt mir plötzlich ein, daß sie sehr klug sind, und ich überlege sie
mir eine ganze Woche lang." Der Zustand des armen Eugen ist, nachdem
sie ihm, ohne daß er irgend welchen Grund dazu gegeben, die Thür gewiesen
hat, überaus kläglich, aber der Eindruck, den er auf uns macht, wird durch
einen komischen Zug gemildert. Wir bedauern ihn lächelnd und freuen uns
schließlich, daß er in der von seinem Vater ihm aufgezwungenen Verlobten
wahre Liebenswürdigkeit kennen lernt.

„Die Madonna der Zukunft", wie sich die vierte unserer Novellen
nennt, spielt in Florenz und ist die Geschichte eines amerikanischen Malers,
der, obwohl künstlerisch nicht ohne Begabung und stark in der Theorie seiner
Kunst, es vor lauter Studiren nicht zur Ausführung des großen Madonnen¬
bildes, das ihm vorschwebt, zu bringen vermag. Zwei Jahrzehnte oder länger
hat Theobald begeistert gestrebt und gesprochen, aber nichts gemalt, sondern
neben seiner Phantasie nur seinen Stolz genährt. Die amerikanische Colonie
in Florenz hat eine Zeit lang an ihn geglaubt, ihn aber, als das Meister¬
werk, von dem er träumt und predigt, gar nicht zum Vorschein kommen will,
aufgegeben. Er lernt einen Landsmann, der neu in die Stadt kommt, kennen
und gewinnt sich ihn zum Freunde. Er wird so vertraut mit ihm, daß er
ihn bei einer Freundin, welche er als das Vorbild seiner Madonna bezeichnet
hat, einführt, und siehe da, die Dame ist — vor zwanzig Jahren schön ge¬
wesen, jetzt aber ein dickgewordenes und nebenher nichts weniger als ideal


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0264" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135317"/>
          <p xml:id="ID_723" prev="#ID_722"> seine Freiheit noch einige Monate genießen und das Leben in vollen Zügen<lb/>
schlürfen. Er lernt in Homburg am Spieltisch eine Frau kennen, die ihn<lb/>
völlig einnimmt. Sie ist eine Deutsche, von Geburt Aristokratin. aber radical,<lb/>
Wittwe und nicht jung mehr, aber noch immer schön und anmuthig und dabei<lb/>
geistreich und witzig. Daß sie am grünen Tisch spielt, davon zum Theil lebt<lb/>
und überhaupt einen starken Zug von Abenteuerlichkeit an sich hat, ficht ihn<lb/>
nicht an. Daß sie eine herzlose Kockette ist, nur darauf bedacht, sich geltend<lb/>
zu machen, und sich auf Kosten Anderer Emotionen zu verschaffen, bleibt ihm<lb/>
verborgen. Er verliebt sich in sie, glaubt sich wieder geliebt und erwartet,<lb/>
nachdem er ihr seine Hand angetragen, ihr Jawort, wird aber, als er es schon<lb/>
zu haben wähnt, in der letzten Stunde von ihr auf eine Weise zurückge¬<lb/>
wiesen, die ihn fast in Wahnsinn stürzt. Sie hat nur mit ihm gespielt, ihn<lb/>
studirt, ein Experiment mit ihm angestellt. Er ist ihr etwas Neues gewesen,<lb/>
&#x201E;er ist so entzückend harmlos", sagt sie zu dem Verfasser, als er sie im In¬<lb/>
teresse seines Freundes zu sondiren versucht. &#x201E;Wenn in diesem dummen alten<lb/>
Deutschland ein junger Mann unschuldig ist. so ist er ein Dummkopf, so hat<lb/>
er kein Gehirn, so ist er nicht ein bischen interessant. Aber Herr Pickering<lb/>
sagt die naivsten Dinge, und nachdem ich fünf Minuten über ihre Einfalt<lb/>
gelacht habe, fällt mir plötzlich ein, daß sie sehr klug sind, und ich überlege sie<lb/>
mir eine ganze Woche lang." Der Zustand des armen Eugen ist, nachdem<lb/>
sie ihm, ohne daß er irgend welchen Grund dazu gegeben, die Thür gewiesen<lb/>
hat, überaus kläglich, aber der Eindruck, den er auf uns macht, wird durch<lb/>
einen komischen Zug gemildert. Wir bedauern ihn lächelnd und freuen uns<lb/>
schließlich, daß er in der von seinem Vater ihm aufgezwungenen Verlobten<lb/>
wahre Liebenswürdigkeit kennen lernt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_724" next="#ID_725"> &#x201E;Die Madonna der Zukunft", wie sich die vierte unserer Novellen<lb/>
nennt, spielt in Florenz und ist die Geschichte eines amerikanischen Malers,<lb/>
der, obwohl künstlerisch nicht ohne Begabung und stark in der Theorie seiner<lb/>
Kunst, es vor lauter Studiren nicht zur Ausführung des großen Madonnen¬<lb/>
bildes, das ihm vorschwebt, zu bringen vermag. Zwei Jahrzehnte oder länger<lb/>
hat Theobald begeistert gestrebt und gesprochen, aber nichts gemalt, sondern<lb/>
neben seiner Phantasie nur seinen Stolz genährt. Die amerikanische Colonie<lb/>
in Florenz hat eine Zeit lang an ihn geglaubt, ihn aber, als das Meister¬<lb/>
werk, von dem er träumt und predigt, gar nicht zum Vorschein kommen will,<lb/>
aufgegeben. Er lernt einen Landsmann, der neu in die Stadt kommt, kennen<lb/>
und gewinnt sich ihn zum Freunde. Er wird so vertraut mit ihm, daß er<lb/>
ihn bei einer Freundin, welche er als das Vorbild seiner Madonna bezeichnet<lb/>
hat, einführt, und siehe da, die Dame ist &#x2014; vor zwanzig Jahren schön ge¬<lb/>
wesen, jetzt aber ein dickgewordenes und nebenher nichts weniger als ideal</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0264] seine Freiheit noch einige Monate genießen und das Leben in vollen Zügen schlürfen. Er lernt in Homburg am Spieltisch eine Frau kennen, die ihn völlig einnimmt. Sie ist eine Deutsche, von Geburt Aristokratin. aber radical, Wittwe und nicht jung mehr, aber noch immer schön und anmuthig und dabei geistreich und witzig. Daß sie am grünen Tisch spielt, davon zum Theil lebt und überhaupt einen starken Zug von Abenteuerlichkeit an sich hat, ficht ihn nicht an. Daß sie eine herzlose Kockette ist, nur darauf bedacht, sich geltend zu machen, und sich auf Kosten Anderer Emotionen zu verschaffen, bleibt ihm verborgen. Er verliebt sich in sie, glaubt sich wieder geliebt und erwartet, nachdem er ihr seine Hand angetragen, ihr Jawort, wird aber, als er es schon zu haben wähnt, in der letzten Stunde von ihr auf eine Weise zurückge¬ wiesen, die ihn fast in Wahnsinn stürzt. Sie hat nur mit ihm gespielt, ihn studirt, ein Experiment mit ihm angestellt. Er ist ihr etwas Neues gewesen, „er ist so entzückend harmlos", sagt sie zu dem Verfasser, als er sie im In¬ teresse seines Freundes zu sondiren versucht. „Wenn in diesem dummen alten Deutschland ein junger Mann unschuldig ist. so ist er ein Dummkopf, so hat er kein Gehirn, so ist er nicht ein bischen interessant. Aber Herr Pickering sagt die naivsten Dinge, und nachdem ich fünf Minuten über ihre Einfalt gelacht habe, fällt mir plötzlich ein, daß sie sehr klug sind, und ich überlege sie mir eine ganze Woche lang." Der Zustand des armen Eugen ist, nachdem sie ihm, ohne daß er irgend welchen Grund dazu gegeben, die Thür gewiesen hat, überaus kläglich, aber der Eindruck, den er auf uns macht, wird durch einen komischen Zug gemildert. Wir bedauern ihn lächelnd und freuen uns schließlich, daß er in der von seinem Vater ihm aufgezwungenen Verlobten wahre Liebenswürdigkeit kennen lernt. „Die Madonna der Zukunft", wie sich die vierte unserer Novellen nennt, spielt in Florenz und ist die Geschichte eines amerikanischen Malers, der, obwohl künstlerisch nicht ohne Begabung und stark in der Theorie seiner Kunst, es vor lauter Studiren nicht zur Ausführung des großen Madonnen¬ bildes, das ihm vorschwebt, zu bringen vermag. Zwei Jahrzehnte oder länger hat Theobald begeistert gestrebt und gesprochen, aber nichts gemalt, sondern neben seiner Phantasie nur seinen Stolz genährt. Die amerikanische Colonie in Florenz hat eine Zeit lang an ihn geglaubt, ihn aber, als das Meister¬ werk, von dem er träumt und predigt, gar nicht zum Vorschein kommen will, aufgegeben. Er lernt einen Landsmann, der neu in die Stadt kommt, kennen und gewinnt sich ihn zum Freunde. Er wird so vertraut mit ihm, daß er ihn bei einer Freundin, welche er als das Vorbild seiner Madonna bezeichnet hat, einführt, und siehe da, die Dame ist — vor zwanzig Jahren schön ge¬ wesen, jetzt aber ein dickgewordenes und nebenher nichts weniger als ideal

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/264
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/264>, abgerufen am 22.07.2024.