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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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denkendes und lebendes Frauenzimmer. Der arme Bursch hat auch in dieser
Beziehung nicht in der Wirklichkeit, sondern in Träumen gelebt, die zuletzt zur
Monomanie geworden sind. Diese tragikomischen Vorgänge nehmen nun
einen rein tragischen Ausgang. Eine Aeußerung des neuen Freundes über das
Urbild öffnet jenem endlich die Augen.

Sie unterhalten sich über Donna Serafina, und Theobald preist sie
aufs Feurigste. "Sie ist das einfachste, holdeste und natürlichste Geschöpf,
das je in diesem wackern alten Lande Italien blühte", sagt er. "Sie müssen
das eigenthümliche Durchscheinen dessen, was sie im Innern bewegte, die
reizende Bescheidenheit ihres Blickes bewundert haben. Und gab es je eine
solche jungfräuliche Stirn, eine solche von Natur klassische Eleganz in der
Welle ihres Haares und der Wölbung des Vorderhauptes? Ich habe sie
studere, ich darf sagen, daß ich sie kenne. Ich habe sie mehr und mehr in
Mich aufgenommen, mein Gemüth ist von ihrem Gepräge erfüllt, und ich
habe mich entschlossen, jetzt den Eindruck festzuhalten -- ich werde sie endlich
einladen, mir zu sitzen." -- "Endlich -- endlich!" wiederholte ich in großem
Erstaunen. "Wollen sie damit sagen, daß sie das bis jetzt noch nie gethan
hat?" -- "Ich habe wirklich -- ich habe sie wirklich mir noch nicht sitzen
lassen", sagte Theobald langsam. "Wissen Sie, ich habe mir Notizen ge¬
macht -- ich habe meinen großen Grundeindruck gewonnen. Das ist die
Hauptsache. Aber ich habe sie in der That noch nicht als drapirtes, gehörig
gestelltes und beleuchtetes Modell vor meiner Staffelei gehabt." -- Ich war
unfähig, einen jähen Ausdruck zurückzudrängen. "Mein armer Freund", rief
ich aus, indem ich ihm meine Hand auf die Schulter legte, "Sie haben Ihre
Zeit vertrödelt. Sie ist ein altes Weib geworden -- zu alt für eine Ma¬
donna!" -- Es war, wie wenn ich ihm einen brutalen Schlag versetzt hätte.
Nie werde ich den langen, langsam kommenden Blick vergessen, mit dem sein
Schmerz mir antwortete. "Meine Zeit vertrödelt -- alt -- alt!" stammelte
er. "Scherzen Sie?" -- "Je nun, mein lieber Junge, vermuthlich halten
Sie das Frauenzimmer nicht für zwanzig Jahre alt." -- Er holte tief Athem
und lehnte sich an ein Haus, indem er mich mit fragendem, protestirendem,
vorwurfsvollem Blicke ansah. Zuletzt ging er weiter, indem er krampfhaft
Nach meinem Arme griff. "Antworten Sie mir allen Ernstes", sagte er,
"kommt sie Ihnen wirklich alt vor? Ist sie runzelig, ist sie verblichen, bin
ich blind?" -- Jetzt endlich begriff ich die Unermeßlichkeit seiner Täuschung,
und es erschien mir fast wie ein Gebot der Menschenliebe, ihm jetzt die ein¬
fache nackte Wahrheit zu sagen. -- "Ich möchte nicht gern sagen, daß Sie
blind seien", antwortete ich. "Aber ich denke, Sie täuschen sich. Sie haben
Zeit verloren in unthätiger Beschaulichkeit. Ihre Freundin war einst jung


Grenzboten I. 1876. 33

denkendes und lebendes Frauenzimmer. Der arme Bursch hat auch in dieser
Beziehung nicht in der Wirklichkeit, sondern in Träumen gelebt, die zuletzt zur
Monomanie geworden sind. Diese tragikomischen Vorgänge nehmen nun
einen rein tragischen Ausgang. Eine Aeußerung des neuen Freundes über das
Urbild öffnet jenem endlich die Augen.

Sie unterhalten sich über Donna Serafina, und Theobald preist sie
aufs Feurigste. „Sie ist das einfachste, holdeste und natürlichste Geschöpf,
das je in diesem wackern alten Lande Italien blühte", sagt er. „Sie müssen
das eigenthümliche Durchscheinen dessen, was sie im Innern bewegte, die
reizende Bescheidenheit ihres Blickes bewundert haben. Und gab es je eine
solche jungfräuliche Stirn, eine solche von Natur klassische Eleganz in der
Welle ihres Haares und der Wölbung des Vorderhauptes? Ich habe sie
studere, ich darf sagen, daß ich sie kenne. Ich habe sie mehr und mehr in
Mich aufgenommen, mein Gemüth ist von ihrem Gepräge erfüllt, und ich
habe mich entschlossen, jetzt den Eindruck festzuhalten — ich werde sie endlich
einladen, mir zu sitzen." — „Endlich — endlich!" wiederholte ich in großem
Erstaunen. „Wollen sie damit sagen, daß sie das bis jetzt noch nie gethan
hat?" — „Ich habe wirklich — ich habe sie wirklich mir noch nicht sitzen
lassen", sagte Theobald langsam. „Wissen Sie, ich habe mir Notizen ge¬
macht — ich habe meinen großen Grundeindruck gewonnen. Das ist die
Hauptsache. Aber ich habe sie in der That noch nicht als drapirtes, gehörig
gestelltes und beleuchtetes Modell vor meiner Staffelei gehabt." — Ich war
unfähig, einen jähen Ausdruck zurückzudrängen. „Mein armer Freund", rief
ich aus, indem ich ihm meine Hand auf die Schulter legte, „Sie haben Ihre
Zeit vertrödelt. Sie ist ein altes Weib geworden — zu alt für eine Ma¬
donna!" — Es war, wie wenn ich ihm einen brutalen Schlag versetzt hätte.
Nie werde ich den langen, langsam kommenden Blick vergessen, mit dem sein
Schmerz mir antwortete. „Meine Zeit vertrödelt — alt — alt!" stammelte
er. „Scherzen Sie?" — „Je nun, mein lieber Junge, vermuthlich halten
Sie das Frauenzimmer nicht für zwanzig Jahre alt." — Er holte tief Athem
und lehnte sich an ein Haus, indem er mich mit fragendem, protestirendem,
vorwurfsvollem Blicke ansah. Zuletzt ging er weiter, indem er krampfhaft
Nach meinem Arme griff. „Antworten Sie mir allen Ernstes", sagte er,
»kommt sie Ihnen wirklich alt vor? Ist sie runzelig, ist sie verblichen, bin
ich blind?" — Jetzt endlich begriff ich die Unermeßlichkeit seiner Täuschung,
und es erschien mir fast wie ein Gebot der Menschenliebe, ihm jetzt die ein¬
fache nackte Wahrheit zu sagen. — „Ich möchte nicht gern sagen, daß Sie
blind seien", antwortete ich. „Aber ich denke, Sie täuschen sich. Sie haben
Zeit verloren in unthätiger Beschaulichkeit. Ihre Freundin war einst jung


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[0265] denkendes und lebendes Frauenzimmer. Der arme Bursch hat auch in dieser Beziehung nicht in der Wirklichkeit, sondern in Träumen gelebt, die zuletzt zur Monomanie geworden sind. Diese tragikomischen Vorgänge nehmen nun einen rein tragischen Ausgang. Eine Aeußerung des neuen Freundes über das Urbild öffnet jenem endlich die Augen. Sie unterhalten sich über Donna Serafina, und Theobald preist sie aufs Feurigste. „Sie ist das einfachste, holdeste und natürlichste Geschöpf, das je in diesem wackern alten Lande Italien blühte", sagt er. „Sie müssen das eigenthümliche Durchscheinen dessen, was sie im Innern bewegte, die reizende Bescheidenheit ihres Blickes bewundert haben. Und gab es je eine solche jungfräuliche Stirn, eine solche von Natur klassische Eleganz in der Welle ihres Haares und der Wölbung des Vorderhauptes? Ich habe sie studere, ich darf sagen, daß ich sie kenne. Ich habe sie mehr und mehr in Mich aufgenommen, mein Gemüth ist von ihrem Gepräge erfüllt, und ich habe mich entschlossen, jetzt den Eindruck festzuhalten — ich werde sie endlich einladen, mir zu sitzen." — „Endlich — endlich!" wiederholte ich in großem Erstaunen. „Wollen sie damit sagen, daß sie das bis jetzt noch nie gethan hat?" — „Ich habe wirklich — ich habe sie wirklich mir noch nicht sitzen lassen", sagte Theobald langsam. „Wissen Sie, ich habe mir Notizen ge¬ macht — ich habe meinen großen Grundeindruck gewonnen. Das ist die Hauptsache. Aber ich habe sie in der That noch nicht als drapirtes, gehörig gestelltes und beleuchtetes Modell vor meiner Staffelei gehabt." — Ich war unfähig, einen jähen Ausdruck zurückzudrängen. „Mein armer Freund", rief ich aus, indem ich ihm meine Hand auf die Schulter legte, „Sie haben Ihre Zeit vertrödelt. Sie ist ein altes Weib geworden — zu alt für eine Ma¬ donna!" — Es war, wie wenn ich ihm einen brutalen Schlag versetzt hätte. Nie werde ich den langen, langsam kommenden Blick vergessen, mit dem sein Schmerz mir antwortete. „Meine Zeit vertrödelt — alt — alt!" stammelte er. „Scherzen Sie?" — „Je nun, mein lieber Junge, vermuthlich halten Sie das Frauenzimmer nicht für zwanzig Jahre alt." — Er holte tief Athem und lehnte sich an ein Haus, indem er mich mit fragendem, protestirendem, vorwurfsvollem Blicke ansah. Zuletzt ging er weiter, indem er krampfhaft Nach meinem Arme griff. „Antworten Sie mir allen Ernstes", sagte er, »kommt sie Ihnen wirklich alt vor? Ist sie runzelig, ist sie verblichen, bin ich blind?" — Jetzt endlich begriff ich die Unermeßlichkeit seiner Täuschung, und es erschien mir fast wie ein Gebot der Menschenliebe, ihm jetzt die ein¬ fache nackte Wahrheit zu sagen. — „Ich möchte nicht gern sagen, daß Sie blind seien", antwortete ich. „Aber ich denke, Sie täuschen sich. Sie haben Zeit verloren in unthätiger Beschaulichkeit. Ihre Freundin war einst jung Grenzboten I. 1876. 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/265>, abgerufen am 22.07.2024.