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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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eine Biographie, welche nach einer lateinischen Urschrift in einer altdeutschen
Uebersetzung vorliegt, und von Rückert zum ersten Male herausgegeben und
mit sprachlichen und geschichtlichen Erläuterungen begleitet wurde (Leipzig
1851). Diesem folgte ein Jahr später seine berühmt gewordene Ausgabe des
Welschen Gastes des Thomasstn Tirkler oder Thomas von Zirelaria, eines
Gedichtes, welches ein Italiener aus dem Friaul um das Jahr 1215 in deutscher
Sprache verfaßt hat, wobei er ein reiches Handschriftenmaterial verglich und
mit scharfer Kritik bearbeitete (Leipzig 1852). Es folgte darauf die Ausgabe
von des Bruders Philipp des Karlhäusers Marienleben (Quedlinburg 1853),
und später die Ausgaben des Lohengrin (Quedlinb. 1857) und noch mehrerer
anderer mittelalterlichen Dichter. Auch sein letztes Werk, die Geschichte der
neuhochdeutschen Schriftsprache (Leipzig 1875), enthaltend im ersten Bande
die Gründung der neuhochdeutschen Schriftsprache, im zweiten fortgehend bis
auf Gottsched, schließt sich hier an.

Zu der zweiten gehören die erzählenden Geschichtswerke, welche in chrono¬
logischer Ordnung verfaßt sind, und sich zum Selbstunterricht für Jedermann
eignen, nämlich die Annalen der deutschen Geschichte in drei Bänden (Leipzig
1848--1850), in zweiter Auflage als Deutsche Geschichte (Leipzig 1861), die
Geschichte des Mittelalters (Stuttgart 1853) und der Neuzeit (1854).

Zu der dritten gehören die räsonnirenden Geschichtswerke, welche sich auch
als die philosophischen bezeichnen lassen, indem er sich in ihnen der Besprechung
seiner höchsten Lebensinteressen vom geschichtlichen Standpunkte aus im freien
Räsonnement hingegeben hat. Diese sind: die Culturgeschichte des deutschen
Volkes in der Zeit des Ueberganges aus dem Heidenthum in das Christen¬
thum, in zwei Theilen (Leipzig 1853--1854), und das Lehrbuch der Weltge¬
schichte in organischer Darstellung, in zwei Theilen (Leipzig 1857).

In beiden Arten seiner Geschichtschreibung verfolgte er verschiedene Zwecke.
Die erste dient dem Erlernen, die zweite dem Begreifen der Geschichte. Erlernt
und begriffen werden soll aber seinem Dafürhalten nach die Geschichte nicht
nur vom Fachgelehrten, sondern von jedem Gebildeten im Volke. Auch noch
wieder in der Vorrede zu seinem letzten Werke spricht er die Forderung aus:
Geschichte solle immer so geschrieben werden, daß sie allen denen, dieinnerhalb
des höheren Bildungskreises der Zeit und der Nation stehen, allen, die die
Fähigkeit haben, eine systematische Leistung der Geistesthätigkeit im Zusammen¬
hange in sich aufzunehmen, die volle Möglichkeit biete, sie zu lesen und zu
verstehen. Die Forderung exclusiver Vorbildung oder eines bloß aus eigent¬
lichen Fachleuten bestehenden Publicums hebe den Begriff der wahren Geschicht¬
schreibung auf. Wer Geschichte zu lernen hat, dem muß es aber vor allem
darum zu thun sein, die reifsten und zuverlässigsten Resultate bisheriger Ge-


eine Biographie, welche nach einer lateinischen Urschrift in einer altdeutschen
Uebersetzung vorliegt, und von Rückert zum ersten Male herausgegeben und
mit sprachlichen und geschichtlichen Erläuterungen begleitet wurde (Leipzig
1851). Diesem folgte ein Jahr später seine berühmt gewordene Ausgabe des
Welschen Gastes des Thomasstn Tirkler oder Thomas von Zirelaria, eines
Gedichtes, welches ein Italiener aus dem Friaul um das Jahr 1215 in deutscher
Sprache verfaßt hat, wobei er ein reiches Handschriftenmaterial verglich und
mit scharfer Kritik bearbeitete (Leipzig 1852). Es folgte darauf die Ausgabe
von des Bruders Philipp des Karlhäusers Marienleben (Quedlinburg 1853),
und später die Ausgaben des Lohengrin (Quedlinb. 1857) und noch mehrerer
anderer mittelalterlichen Dichter. Auch sein letztes Werk, die Geschichte der
neuhochdeutschen Schriftsprache (Leipzig 1875), enthaltend im ersten Bande
die Gründung der neuhochdeutschen Schriftsprache, im zweiten fortgehend bis
auf Gottsched, schließt sich hier an.

Zu der zweiten gehören die erzählenden Geschichtswerke, welche in chrono¬
logischer Ordnung verfaßt sind, und sich zum Selbstunterricht für Jedermann
eignen, nämlich die Annalen der deutschen Geschichte in drei Bänden (Leipzig
1848—1850), in zweiter Auflage als Deutsche Geschichte (Leipzig 1861), die
Geschichte des Mittelalters (Stuttgart 1853) und der Neuzeit (1854).

Zu der dritten gehören die räsonnirenden Geschichtswerke, welche sich auch
als die philosophischen bezeichnen lassen, indem er sich in ihnen der Besprechung
seiner höchsten Lebensinteressen vom geschichtlichen Standpunkte aus im freien
Räsonnement hingegeben hat. Diese sind: die Culturgeschichte des deutschen
Volkes in der Zeit des Ueberganges aus dem Heidenthum in das Christen¬
thum, in zwei Theilen (Leipzig 1853—1854), und das Lehrbuch der Weltge¬
schichte in organischer Darstellung, in zwei Theilen (Leipzig 1857).

In beiden Arten seiner Geschichtschreibung verfolgte er verschiedene Zwecke.
Die erste dient dem Erlernen, die zweite dem Begreifen der Geschichte. Erlernt
und begriffen werden soll aber seinem Dafürhalten nach die Geschichte nicht
nur vom Fachgelehrten, sondern von jedem Gebildeten im Volke. Auch noch
wieder in der Vorrede zu seinem letzten Werke spricht er die Forderung aus:
Geschichte solle immer so geschrieben werden, daß sie allen denen, dieinnerhalb
des höheren Bildungskreises der Zeit und der Nation stehen, allen, die die
Fähigkeit haben, eine systematische Leistung der Geistesthätigkeit im Zusammen¬
hange in sich aufzunehmen, die volle Möglichkeit biete, sie zu lesen und zu
verstehen. Die Forderung exclusiver Vorbildung oder eines bloß aus eigent¬
lichen Fachleuten bestehenden Publicums hebe den Begriff der wahren Geschicht¬
schreibung auf. Wer Geschichte zu lernen hat, dem muß es aber vor allem
darum zu thun sein, die reifsten und zuverlässigsten Resultate bisheriger Ge-


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[0218] eine Biographie, welche nach einer lateinischen Urschrift in einer altdeutschen Uebersetzung vorliegt, und von Rückert zum ersten Male herausgegeben und mit sprachlichen und geschichtlichen Erläuterungen begleitet wurde (Leipzig 1851). Diesem folgte ein Jahr später seine berühmt gewordene Ausgabe des Welschen Gastes des Thomasstn Tirkler oder Thomas von Zirelaria, eines Gedichtes, welches ein Italiener aus dem Friaul um das Jahr 1215 in deutscher Sprache verfaßt hat, wobei er ein reiches Handschriftenmaterial verglich und mit scharfer Kritik bearbeitete (Leipzig 1852). Es folgte darauf die Ausgabe von des Bruders Philipp des Karlhäusers Marienleben (Quedlinburg 1853), und später die Ausgaben des Lohengrin (Quedlinb. 1857) und noch mehrerer anderer mittelalterlichen Dichter. Auch sein letztes Werk, die Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache (Leipzig 1875), enthaltend im ersten Bande die Gründung der neuhochdeutschen Schriftsprache, im zweiten fortgehend bis auf Gottsched, schließt sich hier an. Zu der zweiten gehören die erzählenden Geschichtswerke, welche in chrono¬ logischer Ordnung verfaßt sind, und sich zum Selbstunterricht für Jedermann eignen, nämlich die Annalen der deutschen Geschichte in drei Bänden (Leipzig 1848—1850), in zweiter Auflage als Deutsche Geschichte (Leipzig 1861), die Geschichte des Mittelalters (Stuttgart 1853) und der Neuzeit (1854). Zu der dritten gehören die räsonnirenden Geschichtswerke, welche sich auch als die philosophischen bezeichnen lassen, indem er sich in ihnen der Besprechung seiner höchsten Lebensinteressen vom geschichtlichen Standpunkte aus im freien Räsonnement hingegeben hat. Diese sind: die Culturgeschichte des deutschen Volkes in der Zeit des Ueberganges aus dem Heidenthum in das Christen¬ thum, in zwei Theilen (Leipzig 1853—1854), und das Lehrbuch der Weltge¬ schichte in organischer Darstellung, in zwei Theilen (Leipzig 1857). In beiden Arten seiner Geschichtschreibung verfolgte er verschiedene Zwecke. Die erste dient dem Erlernen, die zweite dem Begreifen der Geschichte. Erlernt und begriffen werden soll aber seinem Dafürhalten nach die Geschichte nicht nur vom Fachgelehrten, sondern von jedem Gebildeten im Volke. Auch noch wieder in der Vorrede zu seinem letzten Werke spricht er die Forderung aus: Geschichte solle immer so geschrieben werden, daß sie allen denen, dieinnerhalb des höheren Bildungskreises der Zeit und der Nation stehen, allen, die die Fähigkeit haben, eine systematische Leistung der Geistesthätigkeit im Zusammen¬ hange in sich aufzunehmen, die volle Möglichkeit biete, sie zu lesen und zu verstehen. Die Forderung exclusiver Vorbildung oder eines bloß aus eigent¬ lichen Fachleuten bestehenden Publicums hebe den Begriff der wahren Geschicht¬ schreibung auf. Wer Geschichte zu lernen hat, dem muß es aber vor allem darum zu thun sein, die reifsten und zuverlässigsten Resultate bisheriger Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/218>, abgerufen am 19.10.2024.