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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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schichtsforschung in reichhaltiger und gedrängter fließender Erzählung mitge¬
theilt zu bekommen, eine Aufgabe, zu deren Lösung wohl nicht leicht ein geeigneterer
gefunden werden konnte, als gerade er. Die allseitige Beherrschung der man-
nichfaltigsten, durch bisherigen gemeinsamen Fleiß erarbeiteten Stoffe im gro߬
artigen Ueberblick war eben die hervorragende Eigenschaft seines Talents.

Rückert's räsonnirende Geschichtswerke tragen einen von jenen erzählenden
verschiedenen Charakter. Er hat in ihnen dasjenige angestrebt, was man eine
Philosophie der Geschichte nennen darf, und was seiner geistigen Befähigung
nicht minder entsprach. In der Culturgeschichte des deutschen Volkes in der
Zeit des Uebergangs aus dem Heidenthum in das Christenthum hat er mit
großer Beherrschung des Quellenmaterials und umfassender kirchengeschichtlicher
Durchbildung ein lebendiges Culturbild aus dem fünften bis siebenten Jahr¬
hundert herzustellen gewußt, in welchem uns zunächst besonders lehrreich vor
Augen tritt, wie das Fortschreiten der Cultur im Großen und Ganzen damals,
wie gewöhnlich, mit partiellen Rückschritten im Kleinen und Einzelnen erkauft
wurde. Denn bei der Ausbreitung der südlichen Bildung im Norden drangen
die welschen Laster und Bosheiten naturgemäß, zur Unterminirung alter und
einfacher Sitten, weit rascher in die Volksmassen ein, als der schwerer fa߬
bare Geist der höheren Culturstufe selbst. Damit dieser für die Ewigkeit tri-
umphire, konnte jenes Mißgeschick für den Augenblick nicht vermieden werden.
Höchst lehrreich wiro uns diese ? hatsache in ihrer Anwendung auf nahe liegende
Cultur" orgänge der Gegenwart, sobald man sie mit Rückert'schen Augen
betrachten lernt. Doch bildet dieses Zugrundegehen heidnischer Sitte
nur die Unterlage des historischen Zeitbildes. Sein wesentlicher Inhalt besteht
in der Auseinandersetzung dessen, was das Christenthum in jener Zeit den
germanischen Völkern geworden ist, und welche Bestandtheile an ihm es ge¬
wesen sind, die sie zu eigener Höherentwickelung aus ihm sich aneignen konnten
und angeeignet haben. Rückert weiß sich, als selbst ein Urdeutscher, so voll¬
kommen in die alten Vorfahren hineinzuleben, daß man die Richtigkeit seiner
Beweisführungen sowohl mit dem ganzen Menschen fühlt, als mit dem Ver¬
stände begreift. Er weiß dabei tiefe Bewunderung und Ehrfurcht einzuflößen
vor jenen Riesen der Culturarbeit, jenen klostergründenden Mönchen in den
Ardennen, welche als die ersten sich die Wege im Urwalde bahnten, und nach¬
dem sie in einer culturfähigen Lichtung des Waldes in ihren mühsam er¬
richteten Blockhäusern den Anfang eines Klosters gemacht hatten, diese dem
Ackerbau wie dem Gottesdienste geweiheten Stätten alsbald anderen Nach¬
züglern überließen, welche sich dort bleibend ansiedelten; dann aber selbst mit
der Axt in der Hand weiter zogen, um immer neues Erdreich für neu nach¬
kommende Anbeter Gottes und Pflüger der Aecker zu erobern. Und wenn
wir uns unter seiner Leitung mit dieser Lebhaftigkeit hineindenken in die stille


schichtsforschung in reichhaltiger und gedrängter fließender Erzählung mitge¬
theilt zu bekommen, eine Aufgabe, zu deren Lösung wohl nicht leicht ein geeigneterer
gefunden werden konnte, als gerade er. Die allseitige Beherrschung der man-
nichfaltigsten, durch bisherigen gemeinsamen Fleiß erarbeiteten Stoffe im gro߬
artigen Ueberblick war eben die hervorragende Eigenschaft seines Talents.

Rückert's räsonnirende Geschichtswerke tragen einen von jenen erzählenden
verschiedenen Charakter. Er hat in ihnen dasjenige angestrebt, was man eine
Philosophie der Geschichte nennen darf, und was seiner geistigen Befähigung
nicht minder entsprach. In der Culturgeschichte des deutschen Volkes in der
Zeit des Uebergangs aus dem Heidenthum in das Christenthum hat er mit
großer Beherrschung des Quellenmaterials und umfassender kirchengeschichtlicher
Durchbildung ein lebendiges Culturbild aus dem fünften bis siebenten Jahr¬
hundert herzustellen gewußt, in welchem uns zunächst besonders lehrreich vor
Augen tritt, wie das Fortschreiten der Cultur im Großen und Ganzen damals,
wie gewöhnlich, mit partiellen Rückschritten im Kleinen und Einzelnen erkauft
wurde. Denn bei der Ausbreitung der südlichen Bildung im Norden drangen
die welschen Laster und Bosheiten naturgemäß, zur Unterminirung alter und
einfacher Sitten, weit rascher in die Volksmassen ein, als der schwerer fa߬
bare Geist der höheren Culturstufe selbst. Damit dieser für die Ewigkeit tri-
umphire, konnte jenes Mißgeschick für den Augenblick nicht vermieden werden.
Höchst lehrreich wiro uns diese ? hatsache in ihrer Anwendung auf nahe liegende
Cultur» orgänge der Gegenwart, sobald man sie mit Rückert'schen Augen
betrachten lernt. Doch bildet dieses Zugrundegehen heidnischer Sitte
nur die Unterlage des historischen Zeitbildes. Sein wesentlicher Inhalt besteht
in der Auseinandersetzung dessen, was das Christenthum in jener Zeit den
germanischen Völkern geworden ist, und welche Bestandtheile an ihm es ge¬
wesen sind, die sie zu eigener Höherentwickelung aus ihm sich aneignen konnten
und angeeignet haben. Rückert weiß sich, als selbst ein Urdeutscher, so voll¬
kommen in die alten Vorfahren hineinzuleben, daß man die Richtigkeit seiner
Beweisführungen sowohl mit dem ganzen Menschen fühlt, als mit dem Ver¬
stände begreift. Er weiß dabei tiefe Bewunderung und Ehrfurcht einzuflößen
vor jenen Riesen der Culturarbeit, jenen klostergründenden Mönchen in den
Ardennen, welche als die ersten sich die Wege im Urwalde bahnten, und nach¬
dem sie in einer culturfähigen Lichtung des Waldes in ihren mühsam er¬
richteten Blockhäusern den Anfang eines Klosters gemacht hatten, diese dem
Ackerbau wie dem Gottesdienste geweiheten Stätten alsbald anderen Nach¬
züglern überließen, welche sich dort bleibend ansiedelten; dann aber selbst mit
der Axt in der Hand weiter zogen, um immer neues Erdreich für neu nach¬
kommende Anbeter Gottes und Pflüger der Aecker zu erobern. Und wenn
wir uns unter seiner Leitung mit dieser Lebhaftigkeit hineindenken in die stille


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[0219] schichtsforschung in reichhaltiger und gedrängter fließender Erzählung mitge¬ theilt zu bekommen, eine Aufgabe, zu deren Lösung wohl nicht leicht ein geeigneterer gefunden werden konnte, als gerade er. Die allseitige Beherrschung der man- nichfaltigsten, durch bisherigen gemeinsamen Fleiß erarbeiteten Stoffe im gro߬ artigen Ueberblick war eben die hervorragende Eigenschaft seines Talents. Rückert's räsonnirende Geschichtswerke tragen einen von jenen erzählenden verschiedenen Charakter. Er hat in ihnen dasjenige angestrebt, was man eine Philosophie der Geschichte nennen darf, und was seiner geistigen Befähigung nicht minder entsprach. In der Culturgeschichte des deutschen Volkes in der Zeit des Uebergangs aus dem Heidenthum in das Christenthum hat er mit großer Beherrschung des Quellenmaterials und umfassender kirchengeschichtlicher Durchbildung ein lebendiges Culturbild aus dem fünften bis siebenten Jahr¬ hundert herzustellen gewußt, in welchem uns zunächst besonders lehrreich vor Augen tritt, wie das Fortschreiten der Cultur im Großen und Ganzen damals, wie gewöhnlich, mit partiellen Rückschritten im Kleinen und Einzelnen erkauft wurde. Denn bei der Ausbreitung der südlichen Bildung im Norden drangen die welschen Laster und Bosheiten naturgemäß, zur Unterminirung alter und einfacher Sitten, weit rascher in die Volksmassen ein, als der schwerer fa߬ bare Geist der höheren Culturstufe selbst. Damit dieser für die Ewigkeit tri- umphire, konnte jenes Mißgeschick für den Augenblick nicht vermieden werden. Höchst lehrreich wiro uns diese ? hatsache in ihrer Anwendung auf nahe liegende Cultur» orgänge der Gegenwart, sobald man sie mit Rückert'schen Augen betrachten lernt. Doch bildet dieses Zugrundegehen heidnischer Sitte nur die Unterlage des historischen Zeitbildes. Sein wesentlicher Inhalt besteht in der Auseinandersetzung dessen, was das Christenthum in jener Zeit den germanischen Völkern geworden ist, und welche Bestandtheile an ihm es ge¬ wesen sind, die sie zu eigener Höherentwickelung aus ihm sich aneignen konnten und angeeignet haben. Rückert weiß sich, als selbst ein Urdeutscher, so voll¬ kommen in die alten Vorfahren hineinzuleben, daß man die Richtigkeit seiner Beweisführungen sowohl mit dem ganzen Menschen fühlt, als mit dem Ver¬ stände begreift. Er weiß dabei tiefe Bewunderung und Ehrfurcht einzuflößen vor jenen Riesen der Culturarbeit, jenen klostergründenden Mönchen in den Ardennen, welche als die ersten sich die Wege im Urwalde bahnten, und nach¬ dem sie in einer culturfähigen Lichtung des Waldes in ihren mühsam er¬ richteten Blockhäusern den Anfang eines Klosters gemacht hatten, diese dem Ackerbau wie dem Gottesdienste geweiheten Stätten alsbald anderen Nach¬ züglern überließen, welche sich dort bleibend ansiedelten; dann aber selbst mit der Axt in der Hand weiter zogen, um immer neues Erdreich für neu nach¬ kommende Anbeter Gottes und Pflüger der Aecker zu erobern. Und wenn wir uns unter seiner Leitung mit dieser Lebhaftigkeit hineindenken in die stille

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/219>, abgerufen am 27.09.2024.