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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Gedichte betitelt "Traum in der Johannisnacht" ausgesprochen hat. Denn
er vergrub sich eben so wenig, wie sein ebenfalls sprachforschender Vater, un¬
geachtet seiner genauen und kritischen Quellenstudien, allein und ausschließlich
in diese, sondern strebte von ihnen aus empor zu jener höheren eulturgeschicht-
lichen Ueberschau der universellen Menschheitentwickelung, welche die histori¬
schen Studien vorzugsweise fruchtbar und lehrreich zu machen geeignet ist.
Aber auch denselben vollherzigen Patriotismus theilte er mit seinem berühm¬
ten Vater. Wie dieser einst mit den ihm zu Gebote stehenden Waffen poeti¬
scher Redekraft zur Zeit des Freiheitskrieges in die vaterländische Volksbewe¬
gung befeuernd eingriff, ohne ein directes öffentliches Auftreten: ähnlich hat
Heinrich Rückert theils durch die Tagespresse, theils im persönlichen Umgange
im Stillen außerordentlich viel zur Verbreitung liberaler und nationaler Ge¬
sinnungen beigetragen. Denn es gab keinen entschiedeneren Feind particula-
ristischer Bestrebungen, keinen wärmeren Verfechter gemeindeutscher Volksinter¬
essen, als ihn.

Er war der Erstgeborene unter seinen Geschwistern, und kam am 14.
Februar 1823 in Koburg als ein schwächliches Kind zur Welt; man hatte
schon früh Befürchtungen wegen seiner Brust. Dabei verhinderte den zehn¬
jährigen Knaben ein zweimaliger Bruch seines linken Arms, welcher schlecht
heilte, am Turnen und sonstigen körperlichen Uebungen den gewünschten An¬
theil zu nehmen. Indessen wuchs er rasch empor zu der großen schlanken
Gestalt, die ihm immer eigen geblieben ist, und härtete sich später auch sehr
gut ab, wurde namentlich ein vorzüglicher Fußgänger und guter Bergsteiger,
war auch bei kindlichen Spielen einer der lebhaftesten, und entwickelte dabei
ganz respeetabele Kraft. Bet der Ueberstedelung seiner Eltern von Koburg
nach Erlangen, wohin der Vater als Professor der orientalischen Sprachen zog,
im Jahre 1826 wurde Heinrich mitgenommen, blieb aber daselbst nur bis zu
seinem sechsten Jahr. Dann nahmen ihn seine Großeltern in Koburg zu sich.
Der Großvater war der Archivrath Fischer, ein Adoptivvater der Mutter,
einer geborenen Wiethaus. Die Großeltern lebten im Winter in Koburg, im
Sommer aber in Neuses, ihrem eine kleine halbe Stunde von Koburg ent¬
fernten Landgute. Der Großvater war ein Mann von sehr einfachen Sitten,
aber fein gebildet und von tiefem Gemüth, großer Gartenfreund und Pomo-
loge; die Großmutter eine gescheute äußerst lebhafte Frau. Heinrich besuchte
zuerst die Rathsschule, hernach das Gymnasium in Koburg. Im Sommer
wanderte er früh von Neuses in die Stadt, blieb hier zu Mittag, und ging
Abends nach Neuses zurück. Er blieb in Koburg bis zum Tode des Gro߬
vaters im Herbst 1837, und kam dann zu seinen Eltern zurück nach Erlangen
aufs Gymnasium, an welchem Döderlein Rector war. Er fand sich nach kurzer
Zeit gut in die neuen Verhältnisse, und behauptete immer den ersten oder


Gedichte betitelt „Traum in der Johannisnacht" ausgesprochen hat. Denn
er vergrub sich eben so wenig, wie sein ebenfalls sprachforschender Vater, un¬
geachtet seiner genauen und kritischen Quellenstudien, allein und ausschließlich
in diese, sondern strebte von ihnen aus empor zu jener höheren eulturgeschicht-
lichen Ueberschau der universellen Menschheitentwickelung, welche die histori¬
schen Studien vorzugsweise fruchtbar und lehrreich zu machen geeignet ist.
Aber auch denselben vollherzigen Patriotismus theilte er mit seinem berühm¬
ten Vater. Wie dieser einst mit den ihm zu Gebote stehenden Waffen poeti¬
scher Redekraft zur Zeit des Freiheitskrieges in die vaterländische Volksbewe¬
gung befeuernd eingriff, ohne ein directes öffentliches Auftreten: ähnlich hat
Heinrich Rückert theils durch die Tagespresse, theils im persönlichen Umgange
im Stillen außerordentlich viel zur Verbreitung liberaler und nationaler Ge¬
sinnungen beigetragen. Denn es gab keinen entschiedeneren Feind particula-
ristischer Bestrebungen, keinen wärmeren Verfechter gemeindeutscher Volksinter¬
essen, als ihn.

Er war der Erstgeborene unter seinen Geschwistern, und kam am 14.
Februar 1823 in Koburg als ein schwächliches Kind zur Welt; man hatte
schon früh Befürchtungen wegen seiner Brust. Dabei verhinderte den zehn¬
jährigen Knaben ein zweimaliger Bruch seines linken Arms, welcher schlecht
heilte, am Turnen und sonstigen körperlichen Uebungen den gewünschten An¬
theil zu nehmen. Indessen wuchs er rasch empor zu der großen schlanken
Gestalt, die ihm immer eigen geblieben ist, und härtete sich später auch sehr
gut ab, wurde namentlich ein vorzüglicher Fußgänger und guter Bergsteiger,
war auch bei kindlichen Spielen einer der lebhaftesten, und entwickelte dabei
ganz respeetabele Kraft. Bet der Ueberstedelung seiner Eltern von Koburg
nach Erlangen, wohin der Vater als Professor der orientalischen Sprachen zog,
im Jahre 1826 wurde Heinrich mitgenommen, blieb aber daselbst nur bis zu
seinem sechsten Jahr. Dann nahmen ihn seine Großeltern in Koburg zu sich.
Der Großvater war der Archivrath Fischer, ein Adoptivvater der Mutter,
einer geborenen Wiethaus. Die Großeltern lebten im Winter in Koburg, im
Sommer aber in Neuses, ihrem eine kleine halbe Stunde von Koburg ent¬
fernten Landgute. Der Großvater war ein Mann von sehr einfachen Sitten,
aber fein gebildet und von tiefem Gemüth, großer Gartenfreund und Pomo-
loge; die Großmutter eine gescheute äußerst lebhafte Frau. Heinrich besuchte
zuerst die Rathsschule, hernach das Gymnasium in Koburg. Im Sommer
wanderte er früh von Neuses in die Stadt, blieb hier zu Mittag, und ging
Abends nach Neuses zurück. Er blieb in Koburg bis zum Tode des Gro߬
vaters im Herbst 1837, und kam dann zu seinen Eltern zurück nach Erlangen
aufs Gymnasium, an welchem Döderlein Rector war. Er fand sich nach kurzer
Zeit gut in die neuen Verhältnisse, und behauptete immer den ersten oder


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[0210] Gedichte betitelt „Traum in der Johannisnacht" ausgesprochen hat. Denn er vergrub sich eben so wenig, wie sein ebenfalls sprachforschender Vater, un¬ geachtet seiner genauen und kritischen Quellenstudien, allein und ausschließlich in diese, sondern strebte von ihnen aus empor zu jener höheren eulturgeschicht- lichen Ueberschau der universellen Menschheitentwickelung, welche die histori¬ schen Studien vorzugsweise fruchtbar und lehrreich zu machen geeignet ist. Aber auch denselben vollherzigen Patriotismus theilte er mit seinem berühm¬ ten Vater. Wie dieser einst mit den ihm zu Gebote stehenden Waffen poeti¬ scher Redekraft zur Zeit des Freiheitskrieges in die vaterländische Volksbewe¬ gung befeuernd eingriff, ohne ein directes öffentliches Auftreten: ähnlich hat Heinrich Rückert theils durch die Tagespresse, theils im persönlichen Umgange im Stillen außerordentlich viel zur Verbreitung liberaler und nationaler Ge¬ sinnungen beigetragen. Denn es gab keinen entschiedeneren Feind particula- ristischer Bestrebungen, keinen wärmeren Verfechter gemeindeutscher Volksinter¬ essen, als ihn. Er war der Erstgeborene unter seinen Geschwistern, und kam am 14. Februar 1823 in Koburg als ein schwächliches Kind zur Welt; man hatte schon früh Befürchtungen wegen seiner Brust. Dabei verhinderte den zehn¬ jährigen Knaben ein zweimaliger Bruch seines linken Arms, welcher schlecht heilte, am Turnen und sonstigen körperlichen Uebungen den gewünschten An¬ theil zu nehmen. Indessen wuchs er rasch empor zu der großen schlanken Gestalt, die ihm immer eigen geblieben ist, und härtete sich später auch sehr gut ab, wurde namentlich ein vorzüglicher Fußgänger und guter Bergsteiger, war auch bei kindlichen Spielen einer der lebhaftesten, und entwickelte dabei ganz respeetabele Kraft. Bet der Ueberstedelung seiner Eltern von Koburg nach Erlangen, wohin der Vater als Professor der orientalischen Sprachen zog, im Jahre 1826 wurde Heinrich mitgenommen, blieb aber daselbst nur bis zu seinem sechsten Jahr. Dann nahmen ihn seine Großeltern in Koburg zu sich. Der Großvater war der Archivrath Fischer, ein Adoptivvater der Mutter, einer geborenen Wiethaus. Die Großeltern lebten im Winter in Koburg, im Sommer aber in Neuses, ihrem eine kleine halbe Stunde von Koburg ent¬ fernten Landgute. Der Großvater war ein Mann von sehr einfachen Sitten, aber fein gebildet und von tiefem Gemüth, großer Gartenfreund und Pomo- loge; die Großmutter eine gescheute äußerst lebhafte Frau. Heinrich besuchte zuerst die Rathsschule, hernach das Gymnasium in Koburg. Im Sommer wanderte er früh von Neuses in die Stadt, blieb hier zu Mittag, und ging Abends nach Neuses zurück. Er blieb in Koburg bis zum Tode des Gro߬ vaters im Herbst 1837, und kam dann zu seinen Eltern zurück nach Erlangen aufs Gymnasium, an welchem Döderlein Rector war. Er fand sich nach kurzer Zeit gut in die neuen Verhältnisse, und behauptete immer den ersten oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/210>, abgerufen am 24.08.2024.