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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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lung, die Bildung kleinerer Landarmenverbände, im Königreiche Sachsen sich
vollziehen. Das nur gegen eine starke Bundesrathsminderheit, unter der auch
Sachsen, zu Stande gekommene Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz
trat im Juli 1871, zu einer Zeit ins Leben, wo ganz andere Aufgaben der
Erledigung harrten. Mit Recht beschränkte sich der sächsische Gesetzgeber des¬
halb darauf, den Staat zum provisorischen Landarmenverbande zu bestellen und
behielt die dauernde Regelung des Landarmenwesens der Zukunft vor. Die¬
ses Vorgehen rechtfertigte sich noch aus einem andern Gesichtspunkte. Sach¬
sen hatte keine vorgeschrittenen Verwaltungseinrichtungen, es fehlte ihm vor
allem an einer selbstverwaltungsfähigen unteren Verwaltungseintheilung.
Die Neugestaltung der sächsischen inneren Verwaltung stand erst bevor. Das
Jahr 1874 hat Sachsen diese große Errungenschaft in der Hauptsache*) ge¬
bracht. Die neugeschaffenen Bezirke bewähren sich rasch als untere Verwal¬
tungseintheilung, sie wollen als Grundlage der sächsischen inneren Verwal¬
tung bei der dauernden Regelung des Landarmenwesens sorgfältig in Betracht
gezogen sein. Eine weitgreifende Gestaltung wie die Bildung der Landarmen¬
verbände kann überall nur im Rahmen des ganzen Verwaltungssystems er¬
folgen. Ob der dem Dresdener Landtage vorliegende Gesetzentwurf "zur Aus¬
führung des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz" dieser Anforderung
schon entspricht, darf billig bezweifelt werden. Sucht sich der Entwurf mit
der Aufgabe nicht mehr bloß abzufinden, als sie vom gestaltenden Standpunkte
aus wirklich zu lösen?

Der sächsische Gesetzverfasser will einen neuen Weg einschlagen, den die
Retchsgesetzgebung nicht geradezu untersagt, den sie trotzdem wohl nicht betreten
wissen will. Das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz (§ 8) trifft
für die Bildung der Landarmenverbände unmittelbar keine Bestimmungen,
stillschweigend setzt es die Befolgung des preußischen Vorgangs voraus. Die
Landarmenverbände sind wie in Preußen einzurichten, sie müssen einer oder
der andern Verwaltungseintheilung sich anschließen. Welcher, das ergiebt die
Lage der Verhältnisse, es bleibt dem Belieben der Länder überlassen. Vor¬
aussichtlich werden auch die preußischen Provinzen nicht durchgängig die Land¬
armenverbände bilden. Weshalb soll am Ende Frankfurt am Main nicht
weiter seinen eigenen Landarmenverband haben? Es ist wichtig, darauf ge¬
rade hier aufmerksam zu machen, da der sächsische Entwurf das Schicksal der
Städte Dresden, Leipzig, Chemnitz im Ungewissen läßt, die eigene Stadtbezirke
ausmachen. Der Entwurf sagt nur allgemein, daß die Bezirke "nach dem
Verhältnisse ihrer Einwohnerzahl" die Landarmenlast tragen sollen, während
die Landarmenverwaltung den Kreisen (Regierungsbezirken) zustehen und durch



* D. Red. ) Auf dem Papier.

lung, die Bildung kleinerer Landarmenverbände, im Königreiche Sachsen sich
vollziehen. Das nur gegen eine starke Bundesrathsminderheit, unter der auch
Sachsen, zu Stande gekommene Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz
trat im Juli 1871, zu einer Zeit ins Leben, wo ganz andere Aufgaben der
Erledigung harrten. Mit Recht beschränkte sich der sächsische Gesetzgeber des¬
halb darauf, den Staat zum provisorischen Landarmenverbande zu bestellen und
behielt die dauernde Regelung des Landarmenwesens der Zukunft vor. Die¬
ses Vorgehen rechtfertigte sich noch aus einem andern Gesichtspunkte. Sach¬
sen hatte keine vorgeschrittenen Verwaltungseinrichtungen, es fehlte ihm vor
allem an einer selbstverwaltungsfähigen unteren Verwaltungseintheilung.
Die Neugestaltung der sächsischen inneren Verwaltung stand erst bevor. Das
Jahr 1874 hat Sachsen diese große Errungenschaft in der Hauptsache*) ge¬
bracht. Die neugeschaffenen Bezirke bewähren sich rasch als untere Verwal¬
tungseintheilung, sie wollen als Grundlage der sächsischen inneren Verwal¬
tung bei der dauernden Regelung des Landarmenwesens sorgfältig in Betracht
gezogen sein. Eine weitgreifende Gestaltung wie die Bildung der Landarmen¬
verbände kann überall nur im Rahmen des ganzen Verwaltungssystems er¬
folgen. Ob der dem Dresdener Landtage vorliegende Gesetzentwurf „zur Aus¬
führung des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz" dieser Anforderung
schon entspricht, darf billig bezweifelt werden. Sucht sich der Entwurf mit
der Aufgabe nicht mehr bloß abzufinden, als sie vom gestaltenden Standpunkte
aus wirklich zu lösen?

Der sächsische Gesetzverfasser will einen neuen Weg einschlagen, den die
Retchsgesetzgebung nicht geradezu untersagt, den sie trotzdem wohl nicht betreten
wissen will. Das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz (§ 8) trifft
für die Bildung der Landarmenverbände unmittelbar keine Bestimmungen,
stillschweigend setzt es die Befolgung des preußischen Vorgangs voraus. Die
Landarmenverbände sind wie in Preußen einzurichten, sie müssen einer oder
der andern Verwaltungseintheilung sich anschließen. Welcher, das ergiebt die
Lage der Verhältnisse, es bleibt dem Belieben der Länder überlassen. Vor¬
aussichtlich werden auch die preußischen Provinzen nicht durchgängig die Land¬
armenverbände bilden. Weshalb soll am Ende Frankfurt am Main nicht
weiter seinen eigenen Landarmenverband haben? Es ist wichtig, darauf ge¬
rade hier aufmerksam zu machen, da der sächsische Entwurf das Schicksal der
Städte Dresden, Leipzig, Chemnitz im Ungewissen läßt, die eigene Stadtbezirke
ausmachen. Der Entwurf sagt nur allgemein, daß die Bezirke „nach dem
Verhältnisse ihrer Einwohnerzahl" die Landarmenlast tragen sollen, während
die Landarmenverwaltung den Kreisen (Regierungsbezirken) zustehen und durch



* D. Red. ) Auf dem Papier.
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[0205] lung, die Bildung kleinerer Landarmenverbände, im Königreiche Sachsen sich vollziehen. Das nur gegen eine starke Bundesrathsminderheit, unter der auch Sachsen, zu Stande gekommene Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz trat im Juli 1871, zu einer Zeit ins Leben, wo ganz andere Aufgaben der Erledigung harrten. Mit Recht beschränkte sich der sächsische Gesetzgeber des¬ halb darauf, den Staat zum provisorischen Landarmenverbande zu bestellen und behielt die dauernde Regelung des Landarmenwesens der Zukunft vor. Die¬ ses Vorgehen rechtfertigte sich noch aus einem andern Gesichtspunkte. Sach¬ sen hatte keine vorgeschrittenen Verwaltungseinrichtungen, es fehlte ihm vor allem an einer selbstverwaltungsfähigen unteren Verwaltungseintheilung. Die Neugestaltung der sächsischen inneren Verwaltung stand erst bevor. Das Jahr 1874 hat Sachsen diese große Errungenschaft in der Hauptsache*) ge¬ bracht. Die neugeschaffenen Bezirke bewähren sich rasch als untere Verwal¬ tungseintheilung, sie wollen als Grundlage der sächsischen inneren Verwal¬ tung bei der dauernden Regelung des Landarmenwesens sorgfältig in Betracht gezogen sein. Eine weitgreifende Gestaltung wie die Bildung der Landarmen¬ verbände kann überall nur im Rahmen des ganzen Verwaltungssystems er¬ folgen. Ob der dem Dresdener Landtage vorliegende Gesetzentwurf „zur Aus¬ führung des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz" dieser Anforderung schon entspricht, darf billig bezweifelt werden. Sucht sich der Entwurf mit der Aufgabe nicht mehr bloß abzufinden, als sie vom gestaltenden Standpunkte aus wirklich zu lösen? Der sächsische Gesetzverfasser will einen neuen Weg einschlagen, den die Retchsgesetzgebung nicht geradezu untersagt, den sie trotzdem wohl nicht betreten wissen will. Das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz (§ 8) trifft für die Bildung der Landarmenverbände unmittelbar keine Bestimmungen, stillschweigend setzt es die Befolgung des preußischen Vorgangs voraus. Die Landarmenverbände sind wie in Preußen einzurichten, sie müssen einer oder der andern Verwaltungseintheilung sich anschließen. Welcher, das ergiebt die Lage der Verhältnisse, es bleibt dem Belieben der Länder überlassen. Vor¬ aussichtlich werden auch die preußischen Provinzen nicht durchgängig die Land¬ armenverbände bilden. Weshalb soll am Ende Frankfurt am Main nicht weiter seinen eigenen Landarmenverband haben? Es ist wichtig, darauf ge¬ rade hier aufmerksam zu machen, da der sächsische Entwurf das Schicksal der Städte Dresden, Leipzig, Chemnitz im Ungewissen läßt, die eigene Stadtbezirke ausmachen. Der Entwurf sagt nur allgemein, daß die Bezirke „nach dem Verhältnisse ihrer Einwohnerzahl" die Landarmenlast tragen sollen, während die Landarmenverwaltung den Kreisen (Regierungsbezirken) zustehen und durch * D. Red. ) Auf dem Papier.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/205>, abgerufen am 24.08.2024.