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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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seine Amtsbruder, und demzufolge widmete er sich dem Urinbeschauen. Nach
zwanzigjährigen Studien in dieser Wissenschaft hatte er es so weit gebracht,
daß er die trüben von den klaren Armen unterscheiden konnte, was ihn nicht
hinderte, jedem, der es hören wollte, zu sagen, er sei im Stande, einen gro¬
ßen Mann, einen König, einen Minister an seinem Urin zu erkennen. Er
hatte das Talent, die Menge für sich einzunehmen." "In der ganzen Um¬
gegend wollte man nur von Herrn Minxit's Hand sterben, ein Privilegium,
welches er nicht mißbrauchte. Er war nicht mörderischer als seine Amtsbruder,
nur machte er mit seinen Phiolen von allen Farben mehr Geld als diese mit
ihren Recepten. Doch hatte er auch das Talent, sein Geld auf gute Art
loszuwerden, er gab Alles in einer Weise, als ob es nichts kostete, und die
Klienten, die ihm zuliefen, fanden stets offene Tafel.

Mein Onkel und Herr Minxit glichen sich wie zwei Tropfen Wein oder,
um mich eines weniger anzüglichen Ausdrucks meinem Onkel gegenüber zu
bedienen, wie zwei Becher in die gleiche Form gegossen. Sie hatten dieselben
Bedürfnisse, denselben Geschmack, dieselbe politische Meinung. Wer inmitten
all der Erbärmlichkeiten stricten keine Philosophie besitzt, ist ein Mensch,
der baarköpfig durch einen Wolkenbruch geht. Der Philosoph dagegen hat
einen guten Regenschirm über dem Haupte, der ihn vor dem Gusse schützt.
Das war ihre Meinung. Sie betrachteten das Leben als eine Posse und
spielten ihre Rolle darin so lustig als möglich. Der ganze Unterschied, wel¬
chen das Alter zwischen sie brachte, bestand in einigen Falten. So hatte
denn auch der zukünftige Schwiegervater eine außerordentliche Freundschaft
zu seinem Schwiegersohn gefaßt, und der Schwiegersohn erwies dem Schwie¬
gervater eine hohe Achtung, seine Arzneikolben ausgenommen.

Dennoch hat er keine rechte Lust, die Jungfer Minxit zu heirathen, zu¬
mal er gehört hat, daß ein Junker von Brückenbruch, einer von den Mus¬
ketieren des Königs, um sie angehalten hat. Herr Minxit sagt ihm, nie
werde er seine Tochter einem so lüderlicher Geschöpfe geben. -- Aber wie,
wenn Arabella dieses Geschöpf liebte? fragt Benjamin. Minxit hält es für
unmöglich, daß sie nicht vielmehr den liebe, den er liebt. "Pfui!" sagt er.
"Arabella hat zu viel von meinem Blut in den Adern, um sich in einen
Vicomte zu vergessen. Was ich brauche, ist ein Kind des Volkes, ein Mann
wie Du, Benjamin, mit dem ich lachen, trinken und Philosophiren kann, ein
geschickter Arzt, der mir meine Praxis versehen hilft, und der durch sein Wis¬
sen das ersetzt, was uns das Urinbeschauen nicht offenbaren kann." "Halt!"
erwiderte mein Onkel, "ich erkläre Ihnen zum Voraus, daß ich die Arme
nicht beschauen will." -- "Und warum nicht mein Herr. Glaube mir, Ben¬
jamin, das war ein Mann von großem Verstände, jener Kaiser, der zu sei¬
nem Sohne sagte: Riechen diese Goldstücke etwa nach Urin? Und wenn


seine Amtsbruder, und demzufolge widmete er sich dem Urinbeschauen. Nach
zwanzigjährigen Studien in dieser Wissenschaft hatte er es so weit gebracht,
daß er die trüben von den klaren Armen unterscheiden konnte, was ihn nicht
hinderte, jedem, der es hören wollte, zu sagen, er sei im Stande, einen gro¬
ßen Mann, einen König, einen Minister an seinem Urin zu erkennen. Er
hatte das Talent, die Menge für sich einzunehmen." „In der ganzen Um¬
gegend wollte man nur von Herrn Minxit's Hand sterben, ein Privilegium,
welches er nicht mißbrauchte. Er war nicht mörderischer als seine Amtsbruder,
nur machte er mit seinen Phiolen von allen Farben mehr Geld als diese mit
ihren Recepten. Doch hatte er auch das Talent, sein Geld auf gute Art
loszuwerden, er gab Alles in einer Weise, als ob es nichts kostete, und die
Klienten, die ihm zuliefen, fanden stets offene Tafel.

Mein Onkel und Herr Minxit glichen sich wie zwei Tropfen Wein oder,
um mich eines weniger anzüglichen Ausdrucks meinem Onkel gegenüber zu
bedienen, wie zwei Becher in die gleiche Form gegossen. Sie hatten dieselben
Bedürfnisse, denselben Geschmack, dieselbe politische Meinung. Wer inmitten
all der Erbärmlichkeiten stricten keine Philosophie besitzt, ist ein Mensch,
der baarköpfig durch einen Wolkenbruch geht. Der Philosoph dagegen hat
einen guten Regenschirm über dem Haupte, der ihn vor dem Gusse schützt.
Das war ihre Meinung. Sie betrachteten das Leben als eine Posse und
spielten ihre Rolle darin so lustig als möglich. Der ganze Unterschied, wel¬
chen das Alter zwischen sie brachte, bestand in einigen Falten. So hatte
denn auch der zukünftige Schwiegervater eine außerordentliche Freundschaft
zu seinem Schwiegersohn gefaßt, und der Schwiegersohn erwies dem Schwie¬
gervater eine hohe Achtung, seine Arzneikolben ausgenommen.

Dennoch hat er keine rechte Lust, die Jungfer Minxit zu heirathen, zu¬
mal er gehört hat, daß ein Junker von Brückenbruch, einer von den Mus¬
ketieren des Königs, um sie angehalten hat. Herr Minxit sagt ihm, nie
werde er seine Tochter einem so lüderlicher Geschöpfe geben. — Aber wie,
wenn Arabella dieses Geschöpf liebte? fragt Benjamin. Minxit hält es für
unmöglich, daß sie nicht vielmehr den liebe, den er liebt. „Pfui!" sagt er.
„Arabella hat zu viel von meinem Blut in den Adern, um sich in einen
Vicomte zu vergessen. Was ich brauche, ist ein Kind des Volkes, ein Mann
wie Du, Benjamin, mit dem ich lachen, trinken und Philosophiren kann, ein
geschickter Arzt, der mir meine Praxis versehen hilft, und der durch sein Wis¬
sen das ersetzt, was uns das Urinbeschauen nicht offenbaren kann." „Halt!"
erwiderte mein Onkel, „ich erkläre Ihnen zum Voraus, daß ich die Arme
nicht beschauen will." — „Und warum nicht mein Herr. Glaube mir, Ben¬
jamin, das war ein Mann von großem Verstände, jener Kaiser, der zu sei¬
nem Sohne sagte: Riechen diese Goldstücke etwa nach Urin? Und wenn


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[0189] seine Amtsbruder, und demzufolge widmete er sich dem Urinbeschauen. Nach zwanzigjährigen Studien in dieser Wissenschaft hatte er es so weit gebracht, daß er die trüben von den klaren Armen unterscheiden konnte, was ihn nicht hinderte, jedem, der es hören wollte, zu sagen, er sei im Stande, einen gro¬ ßen Mann, einen König, einen Minister an seinem Urin zu erkennen. Er hatte das Talent, die Menge für sich einzunehmen." „In der ganzen Um¬ gegend wollte man nur von Herrn Minxit's Hand sterben, ein Privilegium, welches er nicht mißbrauchte. Er war nicht mörderischer als seine Amtsbruder, nur machte er mit seinen Phiolen von allen Farben mehr Geld als diese mit ihren Recepten. Doch hatte er auch das Talent, sein Geld auf gute Art loszuwerden, er gab Alles in einer Weise, als ob es nichts kostete, und die Klienten, die ihm zuliefen, fanden stets offene Tafel. Mein Onkel und Herr Minxit glichen sich wie zwei Tropfen Wein oder, um mich eines weniger anzüglichen Ausdrucks meinem Onkel gegenüber zu bedienen, wie zwei Becher in die gleiche Form gegossen. Sie hatten dieselben Bedürfnisse, denselben Geschmack, dieselbe politische Meinung. Wer inmitten all der Erbärmlichkeiten stricten keine Philosophie besitzt, ist ein Mensch, der baarköpfig durch einen Wolkenbruch geht. Der Philosoph dagegen hat einen guten Regenschirm über dem Haupte, der ihn vor dem Gusse schützt. Das war ihre Meinung. Sie betrachteten das Leben als eine Posse und spielten ihre Rolle darin so lustig als möglich. Der ganze Unterschied, wel¬ chen das Alter zwischen sie brachte, bestand in einigen Falten. So hatte denn auch der zukünftige Schwiegervater eine außerordentliche Freundschaft zu seinem Schwiegersohn gefaßt, und der Schwiegersohn erwies dem Schwie¬ gervater eine hohe Achtung, seine Arzneikolben ausgenommen. Dennoch hat er keine rechte Lust, die Jungfer Minxit zu heirathen, zu¬ mal er gehört hat, daß ein Junker von Brückenbruch, einer von den Mus¬ ketieren des Königs, um sie angehalten hat. Herr Minxit sagt ihm, nie werde er seine Tochter einem so lüderlicher Geschöpfe geben. — Aber wie, wenn Arabella dieses Geschöpf liebte? fragt Benjamin. Minxit hält es für unmöglich, daß sie nicht vielmehr den liebe, den er liebt. „Pfui!" sagt er. „Arabella hat zu viel von meinem Blut in den Adern, um sich in einen Vicomte zu vergessen. Was ich brauche, ist ein Kind des Volkes, ein Mann wie Du, Benjamin, mit dem ich lachen, trinken und Philosophiren kann, ein geschickter Arzt, der mir meine Praxis versehen hilft, und der durch sein Wis¬ sen das ersetzt, was uns das Urinbeschauen nicht offenbaren kann." „Halt!" erwiderte mein Onkel, „ich erkläre Ihnen zum Voraus, daß ich die Arme nicht beschauen will." — „Und warum nicht mein Herr. Glaube mir, Ben¬ jamin, das war ein Mann von großem Verstände, jener Kaiser, der zu sei¬ nem Sohne sagte: Riechen diese Goldstücke etwa nach Urin? Und wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/189>, abgerufen am 22.07.2024.