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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Du wüßtest, wie viel Geistesgegenwart, Einbildungskraft und selbst Logik
das Urinbeschauen erfordert, Du wolltest Dein Lebenlang kein anderes Hand¬
werk betreiben." "Sieh, da kommt mein Pfeifer, der mir wahrscheinlich die An¬
kunft irgend eines Arzneidurstigen zu melden hat. Ich werde Dir sogleich
eine Probe von meiner Kunst geben." --

"Nun. Pfeifer," sagte Herr Minxit zum Musikanten, "was giebt's
Neues?" -- "Ein Bauer ist da, der Sie consultiren will." -- "Und hat ihn
Arabella plaudern lassen?" -- "Ja, Herr Minxit, er bringt Ihnen Urin von
seiner Frau, die von einer Vortreppe vier oder fünf Stufen herabgefallen ist.
Jungfer Arabella erinnert sich der Zahl nicht ganz genau." -- "Kukuk!" sagte
Herr Minxit, das ist recht ungeschickt von Arabella. Aber gleichviel, ich werde
dem abhelfen. Benjamin, geh in die Küche und erwarte mich dort mit dem
Bauern. Du sollst wissen, was das ist, ein Arzt, der Urin beschaut." Herr
Minxit ging durch die kleine Gartenthür in sein Haus zurück, und fünf Mi¬
nuten nachher erschien er in der Küche, abgemattet, krummgebogen, eine Reit¬
peitsche in der Hand, mit einem Mantel verspritzt bis an den Kragen. "Uf!"
sagte er, indem er sich auf einen Stuhl warf, "was für abscheuliche Wege!
Ich bin ganz entzwei, ich habe diesen Morgen mehr als fünfzehn Meilen ge¬
macht. Nun ziehe mir flugs die Stiefel aus und wärme mir mein Bett."
-- "Herr Minxit, ich bitte Sie." sagte der Bauer, indem er ihm den Kolben
darreichte. "Geh zum Teufel mit Deinem Kolben," sagte Herr Minxit, "Du
siehst ja, daß ich nicht mehr kann. So seid Ihr Alle, immer kommt Ihr in
der Minute, wo ich von Überfeld heimkehre." -- "Vater," sagte Arabella,
"der Mann ist auch müde, nöthigen Sie ihn nicht, morgen noch einmal zu
kommen." -- Nun denn, so laß den Kolben sehen/ sagte Herr Minxit mit
ärgerlicher Stimme, und indem er sich dem Fenster näherte: "Das ist Urin
von Deiner Frau, nicht wahr?" -- "Das ist wahr, Herr Minxit," sagte der
Bauers -- "Sie ist gefallen," fuhr der Doctor fort, indem er das Glas von
Neuem betrachtete. -- "Aufs Haar errathen." -- "Eine Treppe hinunter,
nicht wahr?" -- "Sind Sie denn ein Hexenmeister, Herr Minxit?" -- "Und
sie ist vier Stufen hinabgekollert?" -- "Diesmal haben Sie es nicht ganz,
Herr Minxit; sie ist fünfe hinabgefallen." -- "Schweig doch, das ist unmög¬
lich, zähle die Stufen Deiner Vortreppe noch einmal, und Du wirst sehen,
daß es nur viere sind." -- "Ich versichere Ihnen, Herr Minxit, daß meine
Treppe fünf Stufen hat, und daß meine Frau nicht eine fehlte." -- "Das
ist erstaunlich," sagte Herr Minxit, indem er den Kolben von Neuem betrach¬
tete, "hier sind in der That nicht mehr als vier Stufen zu sehen. Doch halt!
-- hast Du mir allen Urin gebracht, den Deine Frau Dir gegeben?" --
"Ich hab' ein wenig davon ausgeschüttet, weil das Glas zu voll war.
"Jetzt wundere ich mich nicht mehr, daß ich meine Rechnung nicht finde.


Du wüßtest, wie viel Geistesgegenwart, Einbildungskraft und selbst Logik
das Urinbeschauen erfordert, Du wolltest Dein Lebenlang kein anderes Hand¬
werk betreiben." „Sieh, da kommt mein Pfeifer, der mir wahrscheinlich die An¬
kunft irgend eines Arzneidurstigen zu melden hat. Ich werde Dir sogleich
eine Probe von meiner Kunst geben." —

„Nun. Pfeifer," sagte Herr Minxit zum Musikanten, „was giebt's
Neues?" — „Ein Bauer ist da, der Sie consultiren will." — „Und hat ihn
Arabella plaudern lassen?" — „Ja, Herr Minxit, er bringt Ihnen Urin von
seiner Frau, die von einer Vortreppe vier oder fünf Stufen herabgefallen ist.
Jungfer Arabella erinnert sich der Zahl nicht ganz genau." — „Kukuk!" sagte
Herr Minxit, das ist recht ungeschickt von Arabella. Aber gleichviel, ich werde
dem abhelfen. Benjamin, geh in die Küche und erwarte mich dort mit dem
Bauern. Du sollst wissen, was das ist, ein Arzt, der Urin beschaut." Herr
Minxit ging durch die kleine Gartenthür in sein Haus zurück, und fünf Mi¬
nuten nachher erschien er in der Küche, abgemattet, krummgebogen, eine Reit¬
peitsche in der Hand, mit einem Mantel verspritzt bis an den Kragen. „Uf!"
sagte er, indem er sich auf einen Stuhl warf, „was für abscheuliche Wege!
Ich bin ganz entzwei, ich habe diesen Morgen mehr als fünfzehn Meilen ge¬
macht. Nun ziehe mir flugs die Stiefel aus und wärme mir mein Bett."
— „Herr Minxit, ich bitte Sie." sagte der Bauer, indem er ihm den Kolben
darreichte. „Geh zum Teufel mit Deinem Kolben," sagte Herr Minxit, „Du
siehst ja, daß ich nicht mehr kann. So seid Ihr Alle, immer kommt Ihr in
der Minute, wo ich von Überfeld heimkehre." — „Vater," sagte Arabella,
„der Mann ist auch müde, nöthigen Sie ihn nicht, morgen noch einmal zu
kommen." — Nun denn, so laß den Kolben sehen/ sagte Herr Minxit mit
ärgerlicher Stimme, und indem er sich dem Fenster näherte: „Das ist Urin
von Deiner Frau, nicht wahr?" — „Das ist wahr, Herr Minxit," sagte der
Bauers — „Sie ist gefallen," fuhr der Doctor fort, indem er das Glas von
Neuem betrachtete. — „Aufs Haar errathen." — „Eine Treppe hinunter,
nicht wahr?" — „Sind Sie denn ein Hexenmeister, Herr Minxit?" — „Und
sie ist vier Stufen hinabgekollert?" — „Diesmal haben Sie es nicht ganz,
Herr Minxit; sie ist fünfe hinabgefallen." — „Schweig doch, das ist unmög¬
lich, zähle die Stufen Deiner Vortreppe noch einmal, und Du wirst sehen,
daß es nur viere sind." — „Ich versichere Ihnen, Herr Minxit, daß meine
Treppe fünf Stufen hat, und daß meine Frau nicht eine fehlte." — „Das
ist erstaunlich," sagte Herr Minxit, indem er den Kolben von Neuem betrach¬
tete, „hier sind in der That nicht mehr als vier Stufen zu sehen. Doch halt!
— hast Du mir allen Urin gebracht, den Deine Frau Dir gegeben?" —
„Ich hab' ein wenig davon ausgeschüttet, weil das Glas zu voll war.
„Jetzt wundere ich mich nicht mehr, daß ich meine Rechnung nicht finde.


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[0190] Du wüßtest, wie viel Geistesgegenwart, Einbildungskraft und selbst Logik das Urinbeschauen erfordert, Du wolltest Dein Lebenlang kein anderes Hand¬ werk betreiben." „Sieh, da kommt mein Pfeifer, der mir wahrscheinlich die An¬ kunft irgend eines Arzneidurstigen zu melden hat. Ich werde Dir sogleich eine Probe von meiner Kunst geben." — „Nun. Pfeifer," sagte Herr Minxit zum Musikanten, „was giebt's Neues?" — „Ein Bauer ist da, der Sie consultiren will." — „Und hat ihn Arabella plaudern lassen?" — „Ja, Herr Minxit, er bringt Ihnen Urin von seiner Frau, die von einer Vortreppe vier oder fünf Stufen herabgefallen ist. Jungfer Arabella erinnert sich der Zahl nicht ganz genau." — „Kukuk!" sagte Herr Minxit, das ist recht ungeschickt von Arabella. Aber gleichviel, ich werde dem abhelfen. Benjamin, geh in die Küche und erwarte mich dort mit dem Bauern. Du sollst wissen, was das ist, ein Arzt, der Urin beschaut." Herr Minxit ging durch die kleine Gartenthür in sein Haus zurück, und fünf Mi¬ nuten nachher erschien er in der Küche, abgemattet, krummgebogen, eine Reit¬ peitsche in der Hand, mit einem Mantel verspritzt bis an den Kragen. „Uf!" sagte er, indem er sich auf einen Stuhl warf, „was für abscheuliche Wege! Ich bin ganz entzwei, ich habe diesen Morgen mehr als fünfzehn Meilen ge¬ macht. Nun ziehe mir flugs die Stiefel aus und wärme mir mein Bett." — „Herr Minxit, ich bitte Sie." sagte der Bauer, indem er ihm den Kolben darreichte. „Geh zum Teufel mit Deinem Kolben," sagte Herr Minxit, „Du siehst ja, daß ich nicht mehr kann. So seid Ihr Alle, immer kommt Ihr in der Minute, wo ich von Überfeld heimkehre." — „Vater," sagte Arabella, „der Mann ist auch müde, nöthigen Sie ihn nicht, morgen noch einmal zu kommen." — Nun denn, so laß den Kolben sehen/ sagte Herr Minxit mit ärgerlicher Stimme, und indem er sich dem Fenster näherte: „Das ist Urin von Deiner Frau, nicht wahr?" — „Das ist wahr, Herr Minxit," sagte der Bauers — „Sie ist gefallen," fuhr der Doctor fort, indem er das Glas von Neuem betrachtete. — „Aufs Haar errathen." — „Eine Treppe hinunter, nicht wahr?" — „Sind Sie denn ein Hexenmeister, Herr Minxit?" — „Und sie ist vier Stufen hinabgekollert?" — „Diesmal haben Sie es nicht ganz, Herr Minxit; sie ist fünfe hinabgefallen." — „Schweig doch, das ist unmög¬ lich, zähle die Stufen Deiner Vortreppe noch einmal, und Du wirst sehen, daß es nur viere sind." — „Ich versichere Ihnen, Herr Minxit, daß meine Treppe fünf Stufen hat, und daß meine Frau nicht eine fehlte." — „Das ist erstaunlich," sagte Herr Minxit, indem er den Kolben von Neuem betrach¬ tete, „hier sind in der That nicht mehr als vier Stufen zu sehen. Doch halt! — hast Du mir allen Urin gebracht, den Deine Frau Dir gegeben?" — „Ich hab' ein wenig davon ausgeschüttet, weil das Glas zu voll war. „Jetzt wundere ich mich nicht mehr, daß ich meine Rechnung nicht finde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/190>, abgerufen am 22.07.2024.