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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Aderlaß wird Ihr gut thun. -- Und Benjamin zog sein Besteck heraus, und
meine Großmutter bewaffnete sich mit der Feuerzange. -- Teufel! Sie ist
ein recht widerspenstiger Patient. Wohlan, so wollen wir uns vergleichen:
ich zapf' Ihr kein Blut ab, und Sie zapft uns die achte Flasche. -- Kein
Glas voll hol' ich. -- So muß ich sie denn selber holen, sagte Benjamin,
nahm die Flasche und ging dem Keller zu. Meine Großmutter, die kein
besseres Mittel sah, ihn aufzuhalten, hing sich an seinen Zopf; aber Benja¬
min ging, ohne diesen Zwischenfall einer Beachtung zu würdigen, so festen
Schrittes in den Keller, als ob er nur einem Büschel Zwiebeln am Zopfe
hätte, und kam mit der vollen Flasche zurück."

Diesen Tag wird es natürlich nichts mit der Brautfahrt, und am
nächsten wird dieselbe zwar in Begleitung des würdigen Beißkurz angetreten,
aber wieder stellt sich dem Freier auf dem Wege nach dem Dorfe Corvol, wo
Papa Minxit mit seiner Tochter wohnt, das Schicksal entgegen, und zwar
in Gestalt eines abgedankter Sergeanten mit seinem Pudel Fontenoy, welche
die Wanderer in einer Brombeerhecke an der Straße treffen und mit nach der
nahe gelegnen Schenke der hübschen Manette zum Frühstück nehmen. Das¬
selbe verlängert sich -- selbstverständlich, muß man sagen -- unter allerlei
komischen Gesprächen und Vorkommnissen bis in die Nacht hinein, und die
Drei kommen ohne Heirathsversprechen, wohl aber mit einem stattlichen
Rausche nach Clameey zurück.

Besser gelingt die Sache am nächsten Morgen, wo Frau Beißkurz ihren
Bruder nach Corvol escortirt. Zwar geht es auch dießmal nicht ohne einige
Possen von Seiten Benjamin's ab, indem derselbe im Dorfe Mulot seiner
Schwester entwischt, in überaus ergötzlicher Weise vor den Bauern den ewigen
Juden spielt und an einem derselben ein Wunder verrichtet. Aber Frau
Beißkurz fängt sich ihn wieder ein und schafft ihn glücklich zu Papa Minxit,
der beide auf das beste empfängt und bewirthet. "Herr Minxit war Arzt,
aber er hatte seine schöne Jugend nicht in Gesellschaft von Cadavern ver¬
bracht. Die Medicin war ihm eines Tages im Kopfe gewachsen wie ein
Pilz; wenn er diese Kunst verstand, so hatte er sie erfunden. Er hatte
eine sehr schöne Bibliothek, aber er steckte die Nase nie in seine
Bücher. Er sagte, daß seit der Zeit, wo diese Scharteken geschrieben
worden, das Temperament der Menschen sich verändert habe. Einige
behaupteten sogar, daß alle diese werthvollen Werke nur scheinbare und aus
Pappdeckeln gemachte Bücher seien, aus deren Rücken er berühmte Namen aus
der Arzneiwissenschaft in goldenen Buchstaben habe drucken lassen. Im Uebri-
gen war er ein Mann von Geist und hatte in Ermangelung gedruckter Wis¬
senschaft eine umfassende Kenntniß von den Dingen des Lebens. Da er nichts
wußte, so sah er ein, daß er die Menge überreden müsse, er verstehe mehr als


Aderlaß wird Ihr gut thun. — Und Benjamin zog sein Besteck heraus, und
meine Großmutter bewaffnete sich mit der Feuerzange. — Teufel! Sie ist
ein recht widerspenstiger Patient. Wohlan, so wollen wir uns vergleichen:
ich zapf' Ihr kein Blut ab, und Sie zapft uns die achte Flasche. — Kein
Glas voll hol' ich. — So muß ich sie denn selber holen, sagte Benjamin,
nahm die Flasche und ging dem Keller zu. Meine Großmutter, die kein
besseres Mittel sah, ihn aufzuhalten, hing sich an seinen Zopf; aber Benja¬
min ging, ohne diesen Zwischenfall einer Beachtung zu würdigen, so festen
Schrittes in den Keller, als ob er nur einem Büschel Zwiebeln am Zopfe
hätte, und kam mit der vollen Flasche zurück."

Diesen Tag wird es natürlich nichts mit der Brautfahrt, und am
nächsten wird dieselbe zwar in Begleitung des würdigen Beißkurz angetreten,
aber wieder stellt sich dem Freier auf dem Wege nach dem Dorfe Corvol, wo
Papa Minxit mit seiner Tochter wohnt, das Schicksal entgegen, und zwar
in Gestalt eines abgedankter Sergeanten mit seinem Pudel Fontenoy, welche
die Wanderer in einer Brombeerhecke an der Straße treffen und mit nach der
nahe gelegnen Schenke der hübschen Manette zum Frühstück nehmen. Das¬
selbe verlängert sich — selbstverständlich, muß man sagen — unter allerlei
komischen Gesprächen und Vorkommnissen bis in die Nacht hinein, und die
Drei kommen ohne Heirathsversprechen, wohl aber mit einem stattlichen
Rausche nach Clameey zurück.

Besser gelingt die Sache am nächsten Morgen, wo Frau Beißkurz ihren
Bruder nach Corvol escortirt. Zwar geht es auch dießmal nicht ohne einige
Possen von Seiten Benjamin's ab, indem derselbe im Dorfe Mulot seiner
Schwester entwischt, in überaus ergötzlicher Weise vor den Bauern den ewigen
Juden spielt und an einem derselben ein Wunder verrichtet. Aber Frau
Beißkurz fängt sich ihn wieder ein und schafft ihn glücklich zu Papa Minxit,
der beide auf das beste empfängt und bewirthet. „Herr Minxit war Arzt,
aber er hatte seine schöne Jugend nicht in Gesellschaft von Cadavern ver¬
bracht. Die Medicin war ihm eines Tages im Kopfe gewachsen wie ein
Pilz; wenn er diese Kunst verstand, so hatte er sie erfunden. Er hatte
eine sehr schöne Bibliothek, aber er steckte die Nase nie in seine
Bücher. Er sagte, daß seit der Zeit, wo diese Scharteken geschrieben
worden, das Temperament der Menschen sich verändert habe. Einige
behaupteten sogar, daß alle diese werthvollen Werke nur scheinbare und aus
Pappdeckeln gemachte Bücher seien, aus deren Rücken er berühmte Namen aus
der Arzneiwissenschaft in goldenen Buchstaben habe drucken lassen. Im Uebri-
gen war er ein Mann von Geist und hatte in Ermangelung gedruckter Wis¬
senschaft eine umfassende Kenntniß von den Dingen des Lebens. Da er nichts
wußte, so sah er ein, daß er die Menge überreden müsse, er verstehe mehr als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/188>, abgerufen am 22.07.2024.