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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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lassen muß; doch wird Niemand leugnen, daß etwas Orientalisches in ihr
hervortritt, wie kaum bei einem andern Volke Europas.

Wunderbar ist es in der That, daß dieser turanische Stamm, der durch¬
aus isolirt dasteht, nicht längst von den Fluthen der arischen Völker, die seit
fast einem Jahrtausend ihn umgeben, verschlungen worden ist. Er hat nicht
nur widerstanden, sondern auch zahlreiche fremde Elemente sich assimilirt. Er
ist durch Blutmischung den arischen Völkern näher gerückt als irgend ein
turanisches Volk und hat unendlich mehr europäische Culturelemente in sich
aufgenommen, als etwa die Türken; aber die Grundlage hat sich unverändert
erhalten. Und jetzt gerade ist am wenigsten abzusehen, ob jemals eine wirk¬
liche Amalgamirung mit der westeuropäischen Bevölkerung stattfinden wird.
Dann freilich wäre es mit dem ganzen Volke zu Ende; wer aber möchte jetzt
an einen solchen Ausgang glauben?

Denn in politischer Beziehung wenigstens, und theilweise nicht nur in
dieser, ist kein anderes Volk in Ungarn den Magyaren gewachsen, weder
Slawen noch Rumänen oder Deutsche, soweit auch die letzteren an Cultur
über allen Nationalitäten Ungarns stehen.

Da sind zuerst die Ruthenen im nordöstlichen Ungarn, wohin sie aus
dem polnischen Galizien übergreifen. In die Ebene ragen sie nicht hinein;
war das in früheren Jahrhunderten der Fall, so haben sie später hier vor
den Magyaren zurückweichen müssen, wie sie auf der andern Seite den Slowaken
vielfach das Feld geräumt haben. Die Ruthenen bilden fast durchweg das
Gegenstück zu den Magyaren. Sie sind gutmüthig, wie diese, entwickeln de߬
halb auch ein lebhaftes Familiengefühl, aber sie sind überaus leichtlebig, ja
leichtsinnig und wankelmüthig; ohne Spur von Stolz und Selbstbewußtsein
beugen sie jedem Höhergestellten sich in demüthiger Unterwürfigkeit. Ihre
intellektuelle Begabung ist an sich nicht unbedeutend, aber wenig entwickelt
infolge jahrhundertelanger Vernachlässigung: Schulen giebt es höchstens in den
größeren Orten. Nur in der Kirche finden sie eine gewisse geistige Pflege;
doch diese Kirche ist ja die entgeistigte russisch-griechische, deren Dienst zu
äußerlichsten Formelkram geworden, deren Priester nur die gewinnbringende
Seite ihrer Thätigkeit mit Eifer zu cultiviren pflegen. Kein Wunder deßhalb,
daß die Nacht dichten Aberglaubens diese ruthenischen Köpfe gefangen hält,
eines durchaus heidnischen Aberglaubens, der nur hier und da christliche
Formen angenommen hat.

Auch wirthschaftlich stehen die Ruthenen auf der untersten Stufe. Ein
Volk von Kleinbauern, das erst seit kaum einem Menschenalter aus tiefer
Knechtschaft erlöst worden ist, wohnen sie nur in kleinen schmutzigen Dörfern
und bestellen mit kümmerlichen Werkzeugen ihren Acker oder weiden ihr Vieh
auf den Almen der Hochkarpathen. Ihre Häuser -- wenn man sie so nennen


lassen muß; doch wird Niemand leugnen, daß etwas Orientalisches in ihr
hervortritt, wie kaum bei einem andern Volke Europas.

Wunderbar ist es in der That, daß dieser turanische Stamm, der durch¬
aus isolirt dasteht, nicht längst von den Fluthen der arischen Völker, die seit
fast einem Jahrtausend ihn umgeben, verschlungen worden ist. Er hat nicht
nur widerstanden, sondern auch zahlreiche fremde Elemente sich assimilirt. Er
ist durch Blutmischung den arischen Völkern näher gerückt als irgend ein
turanisches Volk und hat unendlich mehr europäische Culturelemente in sich
aufgenommen, als etwa die Türken; aber die Grundlage hat sich unverändert
erhalten. Und jetzt gerade ist am wenigsten abzusehen, ob jemals eine wirk¬
liche Amalgamirung mit der westeuropäischen Bevölkerung stattfinden wird.
Dann freilich wäre es mit dem ganzen Volke zu Ende; wer aber möchte jetzt
an einen solchen Ausgang glauben?

Denn in politischer Beziehung wenigstens, und theilweise nicht nur in
dieser, ist kein anderes Volk in Ungarn den Magyaren gewachsen, weder
Slawen noch Rumänen oder Deutsche, soweit auch die letzteren an Cultur
über allen Nationalitäten Ungarns stehen.

Da sind zuerst die Ruthenen im nordöstlichen Ungarn, wohin sie aus
dem polnischen Galizien übergreifen. In die Ebene ragen sie nicht hinein;
war das in früheren Jahrhunderten der Fall, so haben sie später hier vor
den Magyaren zurückweichen müssen, wie sie auf der andern Seite den Slowaken
vielfach das Feld geräumt haben. Die Ruthenen bilden fast durchweg das
Gegenstück zu den Magyaren. Sie sind gutmüthig, wie diese, entwickeln de߬
halb auch ein lebhaftes Familiengefühl, aber sie sind überaus leichtlebig, ja
leichtsinnig und wankelmüthig; ohne Spur von Stolz und Selbstbewußtsein
beugen sie jedem Höhergestellten sich in demüthiger Unterwürfigkeit. Ihre
intellektuelle Begabung ist an sich nicht unbedeutend, aber wenig entwickelt
infolge jahrhundertelanger Vernachlässigung: Schulen giebt es höchstens in den
größeren Orten. Nur in der Kirche finden sie eine gewisse geistige Pflege;
doch diese Kirche ist ja die entgeistigte russisch-griechische, deren Dienst zu
äußerlichsten Formelkram geworden, deren Priester nur die gewinnbringende
Seite ihrer Thätigkeit mit Eifer zu cultiviren pflegen. Kein Wunder deßhalb,
daß die Nacht dichten Aberglaubens diese ruthenischen Köpfe gefangen hält,
eines durchaus heidnischen Aberglaubens, der nur hier und da christliche
Formen angenommen hat.

Auch wirthschaftlich stehen die Ruthenen auf der untersten Stufe. Ein
Volk von Kleinbauern, das erst seit kaum einem Menschenalter aus tiefer
Knechtschaft erlöst worden ist, wohnen sie nur in kleinen schmutzigen Dörfern
und bestellen mit kümmerlichen Werkzeugen ihren Acker oder weiden ihr Vieh
auf den Almen der Hochkarpathen. Ihre Häuser — wenn man sie so nennen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/70>, abgerufen am 29.06.2024.