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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Einwohner von Debreczin unterscheiden sich von den Bauern in weiten Lein¬
wandhosen hauptsächlich dadurch, daß sie sich alle mit tiefem Stolz Bürger
einer vormaligen königlichen Freistadt nennen, denn eine königliche Freistadt
war eine adlige Person.....In der Verzweiflung läßt man sich einfallen,
die Thurmhöhe der großen protestantischen Kirche zu besteigen. Was sieht
man? Trostlose Einförmigkeit. Die breiten Straßen laufen weit, weit hin¬
aus in die leichtbraune oder bleichgrüne Ebene, und noch darüber hinaus sind,
soweit man blicken kann, elende Hütten über die Fläche verstreut." Ein un¬
geheures "Weichbild", wenn man so sagen darf, gehört zu einer solchen Stadt;
das Gewöhnliche ist ein Umfang von 7--8 Quadratmeilen; Debreczin soll gar
18 Quadratmeilen haben, genau weiß es Niemand, selbst wohl der "Polgär-
mester" nicht, wie die Magyaren mit deutschem Ausdruck den ihnen sachlich
gänzlich fremden "Bürgermeister" benennen.

Die einzige größere Stadt Ungarns, die ein europäisches Aeußere zeigt,
ist Pest-Ofen (abgesehen natürlich von den deutschen Städten in Siebenbürgen,
in den Karpathen, im südwestlichen Ungarn). Aber die Bevölkerung dieser von
den Magyaren vergötterten Stadt ist zum größten Theile deutsch oder jüdisch,
in ihr wird viel mehr Deutsch als Magyarisch geredet, und nicht die
Magyaren find es, welche die glänzenden Palastreihen an der Donauzeile er¬
baut haben. Auch liegt Pest keineswegs in der Mitte des magyarischen
Nationalgebiets, und deutsche und slowakische Sprachinseln erstrecken sich bis
vor die Thore der "heiligen" Stadt.

Bon dem Volkscharakter der Magyaren hat sich Löser ein im Ganzen
günstiges Urtheil gebildet, was indessen die Anerkennung starker Schattenseiten
keineswegs ausschließt. Ehrlichkeit und Gutherzigkeit sind dem Magyaren
eigen; lebhaftes Freundschaftsgefühl und aufopfernde Gastlichkeit entwickeln
sich daraus. Kein besserer Zeltkamerad, kein bereiterer Gastfreund als er.
Eine mächtig bezwingende Thatkraft treibt ihn zu den größten Anstrengungen,
zur verwegensten Tapferkeit; was andere in geduldigen Ausharren erreichen,
meint er in raschem Anlauf durchsetzen zu können; und nichts gleicht dem
stürmischen Wagemuth, mit der magyarische Truppen die schwierigsten Auf¬
gaben lösten. Aber diese glänzenden Soldateneigenschaften machen den Magy¬
aren zu den Werken des Friedens oft genug völlig untauglich. Die leiden¬
schaftliche Thatkraft erschlafft plötzlich; eine Sehnsucht nach behaglichem Nichts¬
thun tritt an ihre Stelle, der nichts widersteht; die stürmische Tapferkeit paart
sich nicht mit kühler Besonnenheit, die ihres Zweckes bewußt ist, sie ist blind
und dazu nicht ausdauernd. Das Alles macht zur fortgesetzten, ruhigen, um¬
sichtigen Arbeit wenig brauchbar. Schon dies würde es erklären, daß in
Ungarn so wenig wie in Polen ein einheimischer Bürgerstand erwachsen ist.
Nicht minder ist davon ein weiterer Charakterzug die Ursache: der edelmänni-


Einwohner von Debreczin unterscheiden sich von den Bauern in weiten Lein¬
wandhosen hauptsächlich dadurch, daß sie sich alle mit tiefem Stolz Bürger
einer vormaligen königlichen Freistadt nennen, denn eine königliche Freistadt
war eine adlige Person.....In der Verzweiflung läßt man sich einfallen,
die Thurmhöhe der großen protestantischen Kirche zu besteigen. Was sieht
man? Trostlose Einförmigkeit. Die breiten Straßen laufen weit, weit hin¬
aus in die leichtbraune oder bleichgrüne Ebene, und noch darüber hinaus sind,
soweit man blicken kann, elende Hütten über die Fläche verstreut." Ein un¬
geheures „Weichbild", wenn man so sagen darf, gehört zu einer solchen Stadt;
das Gewöhnliche ist ein Umfang von 7—8 Quadratmeilen; Debreczin soll gar
18 Quadratmeilen haben, genau weiß es Niemand, selbst wohl der „Polgär-
mester" nicht, wie die Magyaren mit deutschem Ausdruck den ihnen sachlich
gänzlich fremden „Bürgermeister" benennen.

Die einzige größere Stadt Ungarns, die ein europäisches Aeußere zeigt,
ist Pest-Ofen (abgesehen natürlich von den deutschen Städten in Siebenbürgen,
in den Karpathen, im südwestlichen Ungarn). Aber die Bevölkerung dieser von
den Magyaren vergötterten Stadt ist zum größten Theile deutsch oder jüdisch,
in ihr wird viel mehr Deutsch als Magyarisch geredet, und nicht die
Magyaren find es, welche die glänzenden Palastreihen an der Donauzeile er¬
baut haben. Auch liegt Pest keineswegs in der Mitte des magyarischen
Nationalgebiets, und deutsche und slowakische Sprachinseln erstrecken sich bis
vor die Thore der „heiligen" Stadt.

Bon dem Volkscharakter der Magyaren hat sich Löser ein im Ganzen
günstiges Urtheil gebildet, was indessen die Anerkennung starker Schattenseiten
keineswegs ausschließt. Ehrlichkeit und Gutherzigkeit sind dem Magyaren
eigen; lebhaftes Freundschaftsgefühl und aufopfernde Gastlichkeit entwickeln
sich daraus. Kein besserer Zeltkamerad, kein bereiterer Gastfreund als er.
Eine mächtig bezwingende Thatkraft treibt ihn zu den größten Anstrengungen,
zur verwegensten Tapferkeit; was andere in geduldigen Ausharren erreichen,
meint er in raschem Anlauf durchsetzen zu können; und nichts gleicht dem
stürmischen Wagemuth, mit der magyarische Truppen die schwierigsten Auf¬
gaben lösten. Aber diese glänzenden Soldateneigenschaften machen den Magy¬
aren zu den Werken des Friedens oft genug völlig untauglich. Die leiden¬
schaftliche Thatkraft erschlafft plötzlich; eine Sehnsucht nach behaglichem Nichts¬
thun tritt an ihre Stelle, der nichts widersteht; die stürmische Tapferkeit paart
sich nicht mit kühler Besonnenheit, die ihres Zweckes bewußt ist, sie ist blind
und dazu nicht ausdauernd. Das Alles macht zur fortgesetzten, ruhigen, um¬
sichtigen Arbeit wenig brauchbar. Schon dies würde es erklären, daß in
Ungarn so wenig wie in Polen ein einheimischer Bürgerstand erwachsen ist.
Nicht minder ist davon ein weiterer Charakterzug die Ursache: der edelmänni-


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[0068] Einwohner von Debreczin unterscheiden sich von den Bauern in weiten Lein¬ wandhosen hauptsächlich dadurch, daß sie sich alle mit tiefem Stolz Bürger einer vormaligen königlichen Freistadt nennen, denn eine königliche Freistadt war eine adlige Person.....In der Verzweiflung läßt man sich einfallen, die Thurmhöhe der großen protestantischen Kirche zu besteigen. Was sieht man? Trostlose Einförmigkeit. Die breiten Straßen laufen weit, weit hin¬ aus in die leichtbraune oder bleichgrüne Ebene, und noch darüber hinaus sind, soweit man blicken kann, elende Hütten über die Fläche verstreut." Ein un¬ geheures „Weichbild", wenn man so sagen darf, gehört zu einer solchen Stadt; das Gewöhnliche ist ein Umfang von 7—8 Quadratmeilen; Debreczin soll gar 18 Quadratmeilen haben, genau weiß es Niemand, selbst wohl der „Polgär- mester" nicht, wie die Magyaren mit deutschem Ausdruck den ihnen sachlich gänzlich fremden „Bürgermeister" benennen. Die einzige größere Stadt Ungarns, die ein europäisches Aeußere zeigt, ist Pest-Ofen (abgesehen natürlich von den deutschen Städten in Siebenbürgen, in den Karpathen, im südwestlichen Ungarn). Aber die Bevölkerung dieser von den Magyaren vergötterten Stadt ist zum größten Theile deutsch oder jüdisch, in ihr wird viel mehr Deutsch als Magyarisch geredet, und nicht die Magyaren find es, welche die glänzenden Palastreihen an der Donauzeile er¬ baut haben. Auch liegt Pest keineswegs in der Mitte des magyarischen Nationalgebiets, und deutsche und slowakische Sprachinseln erstrecken sich bis vor die Thore der „heiligen" Stadt. Bon dem Volkscharakter der Magyaren hat sich Löser ein im Ganzen günstiges Urtheil gebildet, was indessen die Anerkennung starker Schattenseiten keineswegs ausschließt. Ehrlichkeit und Gutherzigkeit sind dem Magyaren eigen; lebhaftes Freundschaftsgefühl und aufopfernde Gastlichkeit entwickeln sich daraus. Kein besserer Zeltkamerad, kein bereiterer Gastfreund als er. Eine mächtig bezwingende Thatkraft treibt ihn zu den größten Anstrengungen, zur verwegensten Tapferkeit; was andere in geduldigen Ausharren erreichen, meint er in raschem Anlauf durchsetzen zu können; und nichts gleicht dem stürmischen Wagemuth, mit der magyarische Truppen die schwierigsten Auf¬ gaben lösten. Aber diese glänzenden Soldateneigenschaften machen den Magy¬ aren zu den Werken des Friedens oft genug völlig untauglich. Die leiden¬ schaftliche Thatkraft erschlafft plötzlich; eine Sehnsucht nach behaglichem Nichts¬ thun tritt an ihre Stelle, der nichts widersteht; die stürmische Tapferkeit paart sich nicht mit kühler Besonnenheit, die ihres Zweckes bewußt ist, sie ist blind und dazu nicht ausdauernd. Das Alles macht zur fortgesetzten, ruhigen, um¬ sichtigen Arbeit wenig brauchbar. Schon dies würde es erklären, daß in Ungarn so wenig wie in Polen ein einheimischer Bürgerstand erwachsen ist. Nicht minder ist davon ein weiterer Charakterzug die Ursache: der edelmänni-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/68>, abgerufen am 29.06.2024.