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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Ränder Ungarns überall eben nur streifen; am Ungemischtesten aber wohnen
sie in den alten Nomadensitzen Ungarns zwischen Donau und Theiß und
links der Theiß, namentlich in den Comitaten Heves. Szolnok. Csongräd;
nur im Südosten Siebenbürgens haben sie mit den stammverwandten Szeklern
im gebirgigen Terrain sich niedergelassen. Sind sie so durch die centrale Lage
ihrer Sitze zur herrschenden Stellung berufen, so steht doch mit diesem Anspruch
ihre ganze Cultur in eigenthümlichem Widerspruch. Denn sie sind immer noch
ein Bauernvolk, über dem ein zahlreicher, früher noch mehr als jetzt be¬
güterter, herrschgewöhnter und herrschverständiger Adel sitzt, aber ohne
Bürgerthum, ohne Handel und Gewerbe, mit andern Worten: ein halb¬
mittelalterliches und halborientalisches Volk. Ihre Dörfer, meint Löser, sind
die in Lehm und Holz übersetzten Zeltlager der Steppe, endlose breite Gassen,
an den Seiten die kleinen, ebenerdigen Häuser in eingezäunten Hof mit
Maisstauden und Sonnenblumen vor den kleinen Fenstern, schattenlos, eins
wie das andere, das ganze Dorf von colossaler Ausdehnung, von 5000, ja
10,000 Menschen bewohnt, inmitten einer riesigen Feldmark, die oft eine
Quadratmeile umfaßt, denn Nomaden hocken stets in dichten Gruppen bei¬
sammen. In früherer Zeit, wo der Hauptreichthum des magyarischen Land¬
manns in den dichten Herden seiner weißen, großhörnigen Ochsen bestand,
mochte diese Ausdehnung der Feldflur wenig hindern; seitdem die weiten
Ebenen von wogenden Waizen - und Maisfeldern bedeckt sind, steht die ur¬
alte Nomadengewohnheit der Jntensivität des Ackerbaus durchaus im Wege.
Daher die herrschende Oberflächlichkeit der ganzen Bodenbewirthschaftung, welche
auch durch die vielen Tanyas, selbständige Vorwerke, wenig berührt wird.
Nur zahlreiche Adelsgüter machen eine oft glänzende Ausnahme, aber sie werden
für den Bauer keine Vorbilder.

Auch die Marktflecken und Städte der Magyaren sind nichts als große
Dörfer. "Ein Dorf mit 20.000 Einwohner heißt ein Marktflecken, wenn es
das Recht hat, große Vieh- und Krammärkte zu halten. Ist das Dorf aber
mit 40,000 besetzt, dann verdient es eine königliche Freistadt zu heißen."
Einen inneren Unterschied giebt es nicht. Das beste Beispiel einer solchen
"Stadt" ist das echt magyarische Debreczin. "Was sieht man in Debreczin?"
fragt Löser. "Hauptsächlich lange Stücke der Steppe, die man Straßen
nennt, weil sie hin und wieder Häuser zur Seite haben, straßenbreit und
stundenlang. Von Domen, Prachtpalästen, Häuserlinien ist keine Rede:
Straßen und Häuschen, ein großer Platz, ein paar Kirchen, und wieder
Straßen und Bauernhütten bilden die Stadt. Bürgerliches Gewerbe ist vor¬
handen; es besteht aus Schweinemetzgern, Müllern, Seifensiedern. Töpfern,
Krämern und einer Menge Fuhrleuten. Dazu kommen einige Großhändler
w Korn, Talg und Häuten, einige Aerzte, Lehrer, Beamte; alle übrigen


Ränder Ungarns überall eben nur streifen; am Ungemischtesten aber wohnen
sie in den alten Nomadensitzen Ungarns zwischen Donau und Theiß und
links der Theiß, namentlich in den Comitaten Heves. Szolnok. Csongräd;
nur im Südosten Siebenbürgens haben sie mit den stammverwandten Szeklern
im gebirgigen Terrain sich niedergelassen. Sind sie so durch die centrale Lage
ihrer Sitze zur herrschenden Stellung berufen, so steht doch mit diesem Anspruch
ihre ganze Cultur in eigenthümlichem Widerspruch. Denn sie sind immer noch
ein Bauernvolk, über dem ein zahlreicher, früher noch mehr als jetzt be¬
güterter, herrschgewöhnter und herrschverständiger Adel sitzt, aber ohne
Bürgerthum, ohne Handel und Gewerbe, mit andern Worten: ein halb¬
mittelalterliches und halborientalisches Volk. Ihre Dörfer, meint Löser, sind
die in Lehm und Holz übersetzten Zeltlager der Steppe, endlose breite Gassen,
an den Seiten die kleinen, ebenerdigen Häuser in eingezäunten Hof mit
Maisstauden und Sonnenblumen vor den kleinen Fenstern, schattenlos, eins
wie das andere, das ganze Dorf von colossaler Ausdehnung, von 5000, ja
10,000 Menschen bewohnt, inmitten einer riesigen Feldmark, die oft eine
Quadratmeile umfaßt, denn Nomaden hocken stets in dichten Gruppen bei¬
sammen. In früherer Zeit, wo der Hauptreichthum des magyarischen Land¬
manns in den dichten Herden seiner weißen, großhörnigen Ochsen bestand,
mochte diese Ausdehnung der Feldflur wenig hindern; seitdem die weiten
Ebenen von wogenden Waizen - und Maisfeldern bedeckt sind, steht die ur¬
alte Nomadengewohnheit der Jntensivität des Ackerbaus durchaus im Wege.
Daher die herrschende Oberflächlichkeit der ganzen Bodenbewirthschaftung, welche
auch durch die vielen Tanyas, selbständige Vorwerke, wenig berührt wird.
Nur zahlreiche Adelsgüter machen eine oft glänzende Ausnahme, aber sie werden
für den Bauer keine Vorbilder.

Auch die Marktflecken und Städte der Magyaren sind nichts als große
Dörfer. „Ein Dorf mit 20.000 Einwohner heißt ein Marktflecken, wenn es
das Recht hat, große Vieh- und Krammärkte zu halten. Ist das Dorf aber
mit 40,000 besetzt, dann verdient es eine königliche Freistadt zu heißen."
Einen inneren Unterschied giebt es nicht. Das beste Beispiel einer solchen
„Stadt" ist das echt magyarische Debreczin. „Was sieht man in Debreczin?"
fragt Löser. „Hauptsächlich lange Stücke der Steppe, die man Straßen
nennt, weil sie hin und wieder Häuser zur Seite haben, straßenbreit und
stundenlang. Von Domen, Prachtpalästen, Häuserlinien ist keine Rede:
Straßen und Häuschen, ein großer Platz, ein paar Kirchen, und wieder
Straßen und Bauernhütten bilden die Stadt. Bürgerliches Gewerbe ist vor¬
handen; es besteht aus Schweinemetzgern, Müllern, Seifensiedern. Töpfern,
Krämern und einer Menge Fuhrleuten. Dazu kommen einige Großhändler
w Korn, Talg und Häuten, einige Aerzte, Lehrer, Beamte; alle übrigen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/67>, abgerufen am 28.09.2024.