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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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nach Ungarn hineingedrungen, von jener Zeit an, da Pippin den Ring des
Awarenkhans stürmte, bis dahin, wo Prinz Eugen die Türken bei Zerda
schlug und kaiserliche Generale den letzten nationalen Aufstand der Magyaren
1848/9 zu Boden warfen. In der That hat ein selbständiges Ungarn nur
wenig mehr als ein halbes Jahrtausend bestanden, von Stephan dem Heiligen,
der die wilden Nomadenhorden zu einem christlichen Staate zusammenfaßte,
bis auf König Ludwig, der 1326 auf dem Felde der Niederlage von Mohacs
im Sumpfwasser ertrank. War vorher schon unter Kaiser Heinrich III., dem
gewaltigsten der Salier (1039 --1056), Ungarn zeitweilig ein deutscher Va¬
sallenstaat gewesen, so stritten seit 1326 türkische und deutsche Waffen in fast
unaufhörlichem Ringen um die Herrschaft des weiten Donaubeckens, bis
endlich der Adler und das Kreuz den Halbmond verdrängten. Und unauf¬
hörlich ist seit dem 9. Jahrhundert deutsche Volkskraft und deutsche Cultur
nach Ungarn geströmt; es ist "unser uraltes Cultur- und Handelsgebiet",
wir fügen hinzu: auch unser uraltes Herrschaftsgebiet. Von deutscher
Herrschaft hat es sich gelöst, von deutschem Cultureinfluß wird es sich nie¬
mals lösen.

Die Gegenwart jedes Landes ist das Product einer langen Entwicklungs¬
reihe und seiner Natur. Das gilt auch für Ungarn. Seine scheinbar so
einheitliche Fügung hat trotzdem ein einheitliches Volksthum nicht entwickeln
können; seine scheinbar so geschützten Grenzen haben fremde Herrschaft und
fremde Cultur nicht auszuschließen vermocht. So ist es geworden, was es
trotz alledem werden mußte: ethnographisch ein Völkergemisch, wie es in West-
Europa nicht seines Gleichen findet, culturell und politisch eine Dependenz
von Deutschland -- trotz alles Sträubens der Magyaren.

Bunt in der That ist die ungarische Völker Mischung, und sie wird
noch bunter durch die Verschiedenartigkeit der Völkercharaktere. Der öster¬
reichische Statistiker Ficker zählt 1869 in Ungarn mit Siebenbürgen: Deutsche
1,810,000, Magyaren 5,413,000, Juden 456,000, Slowaken und Ruthenen
2,222,000, Slowenen, Kroaten und Serben 2,441,000, Walachen 2,648,000,
Zigeuner 150,000, also im Ganzen etwas über 15 Millionen. Nach Procent¬
sätzen stellt sich dann das Verhältniß folgendermaßen: 12^ "/g Deutsche,
382/z0/<, Magyaren, 3^°/o Juden, 12^°/<. Slowaken, lO^"/" Slowenen,
Kroaten. Serben, 17^ <>/g Walachen, 3V2 °/o Ruthenen, 1 <'/" Zigeuner, V2 "/."
Griechen, Bulgaren u. s. f.

Unter diesen Nationalitäten nehmen die Magyaren billig die erste
Stellung ein. Sie sind für sich allein stärker als jede andere, und was noch
mehr bedeutet: sie sitzen in compakter Masse in der ganzen Mitte des Landes,
nur durch verhälmißmäßig kleine deutsche und slawische Sprachinseln unter¬
brochen. So durchaus sind sie ein Volk der Ebene, daß sie die gebirgigen


nach Ungarn hineingedrungen, von jener Zeit an, da Pippin den Ring des
Awarenkhans stürmte, bis dahin, wo Prinz Eugen die Türken bei Zerda
schlug und kaiserliche Generale den letzten nationalen Aufstand der Magyaren
1848/9 zu Boden warfen. In der That hat ein selbständiges Ungarn nur
wenig mehr als ein halbes Jahrtausend bestanden, von Stephan dem Heiligen,
der die wilden Nomadenhorden zu einem christlichen Staate zusammenfaßte,
bis auf König Ludwig, der 1326 auf dem Felde der Niederlage von Mohacs
im Sumpfwasser ertrank. War vorher schon unter Kaiser Heinrich III., dem
gewaltigsten der Salier (1039 —1056), Ungarn zeitweilig ein deutscher Va¬
sallenstaat gewesen, so stritten seit 1326 türkische und deutsche Waffen in fast
unaufhörlichem Ringen um die Herrschaft des weiten Donaubeckens, bis
endlich der Adler und das Kreuz den Halbmond verdrängten. Und unauf¬
hörlich ist seit dem 9. Jahrhundert deutsche Volkskraft und deutsche Cultur
nach Ungarn geströmt; es ist „unser uraltes Cultur- und Handelsgebiet",
wir fügen hinzu: auch unser uraltes Herrschaftsgebiet. Von deutscher
Herrschaft hat es sich gelöst, von deutschem Cultureinfluß wird es sich nie¬
mals lösen.

Die Gegenwart jedes Landes ist das Product einer langen Entwicklungs¬
reihe und seiner Natur. Das gilt auch für Ungarn. Seine scheinbar so
einheitliche Fügung hat trotzdem ein einheitliches Volksthum nicht entwickeln
können; seine scheinbar so geschützten Grenzen haben fremde Herrschaft und
fremde Cultur nicht auszuschließen vermocht. So ist es geworden, was es
trotz alledem werden mußte: ethnographisch ein Völkergemisch, wie es in West-
Europa nicht seines Gleichen findet, culturell und politisch eine Dependenz
von Deutschland — trotz alles Sträubens der Magyaren.

Bunt in der That ist die ungarische Völker Mischung, und sie wird
noch bunter durch die Verschiedenartigkeit der Völkercharaktere. Der öster¬
reichische Statistiker Ficker zählt 1869 in Ungarn mit Siebenbürgen: Deutsche
1,810,000, Magyaren 5,413,000, Juden 456,000, Slowaken und Ruthenen
2,222,000, Slowenen, Kroaten und Serben 2,441,000, Walachen 2,648,000,
Zigeuner 150,000, also im Ganzen etwas über 15 Millionen. Nach Procent¬
sätzen stellt sich dann das Verhältniß folgendermaßen: 12^ «/g Deutsche,
382/z0/<, Magyaren, 3^°/o Juden, 12^°/<. Slowaken, lO^«/» Slowenen,
Kroaten. Serben, 17^ <>/g Walachen, 3V2 °/o Ruthenen, 1 <'/» Zigeuner, V2 "/.»
Griechen, Bulgaren u. s. f.

Unter diesen Nationalitäten nehmen die Magyaren billig die erste
Stellung ein. Sie sind für sich allein stärker als jede andere, und was noch
mehr bedeutet: sie sitzen in compakter Masse in der ganzen Mitte des Landes,
nur durch verhälmißmäßig kleine deutsche und slawische Sprachinseln unter¬
brochen. So durchaus sind sie ein Volk der Ebene, daß sie die gebirgigen


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[0066] nach Ungarn hineingedrungen, von jener Zeit an, da Pippin den Ring des Awarenkhans stürmte, bis dahin, wo Prinz Eugen die Türken bei Zerda schlug und kaiserliche Generale den letzten nationalen Aufstand der Magyaren 1848/9 zu Boden warfen. In der That hat ein selbständiges Ungarn nur wenig mehr als ein halbes Jahrtausend bestanden, von Stephan dem Heiligen, der die wilden Nomadenhorden zu einem christlichen Staate zusammenfaßte, bis auf König Ludwig, der 1326 auf dem Felde der Niederlage von Mohacs im Sumpfwasser ertrank. War vorher schon unter Kaiser Heinrich III., dem gewaltigsten der Salier (1039 —1056), Ungarn zeitweilig ein deutscher Va¬ sallenstaat gewesen, so stritten seit 1326 türkische und deutsche Waffen in fast unaufhörlichem Ringen um die Herrschaft des weiten Donaubeckens, bis endlich der Adler und das Kreuz den Halbmond verdrängten. Und unauf¬ hörlich ist seit dem 9. Jahrhundert deutsche Volkskraft und deutsche Cultur nach Ungarn geströmt; es ist „unser uraltes Cultur- und Handelsgebiet", wir fügen hinzu: auch unser uraltes Herrschaftsgebiet. Von deutscher Herrschaft hat es sich gelöst, von deutschem Cultureinfluß wird es sich nie¬ mals lösen. Die Gegenwart jedes Landes ist das Product einer langen Entwicklungs¬ reihe und seiner Natur. Das gilt auch für Ungarn. Seine scheinbar so einheitliche Fügung hat trotzdem ein einheitliches Volksthum nicht entwickeln können; seine scheinbar so geschützten Grenzen haben fremde Herrschaft und fremde Cultur nicht auszuschließen vermocht. So ist es geworden, was es trotz alledem werden mußte: ethnographisch ein Völkergemisch, wie es in West- Europa nicht seines Gleichen findet, culturell und politisch eine Dependenz von Deutschland — trotz alles Sträubens der Magyaren. Bunt in der That ist die ungarische Völker Mischung, und sie wird noch bunter durch die Verschiedenartigkeit der Völkercharaktere. Der öster¬ reichische Statistiker Ficker zählt 1869 in Ungarn mit Siebenbürgen: Deutsche 1,810,000, Magyaren 5,413,000, Juden 456,000, Slowaken und Ruthenen 2,222,000, Slowenen, Kroaten und Serben 2,441,000, Walachen 2,648,000, Zigeuner 150,000, also im Ganzen etwas über 15 Millionen. Nach Procent¬ sätzen stellt sich dann das Verhältniß folgendermaßen: 12^ «/g Deutsche, 382/z0/<, Magyaren, 3^°/o Juden, 12^°/<. Slowaken, lO^«/» Slowenen, Kroaten. Serben, 17^ <>/g Walachen, 3V2 °/o Ruthenen, 1 <'/» Zigeuner, V2 "/.» Griechen, Bulgaren u. s. f. Unter diesen Nationalitäten nehmen die Magyaren billig die erste Stellung ein. Sie sind für sich allein stärker als jede andere, und was noch mehr bedeutet: sie sitzen in compakter Masse in der ganzen Mitte des Landes, nur durch verhälmißmäßig kleine deutsche und slawische Sprachinseln unter¬ brochen. So durchaus sind sie ein Volk der Ebene, daß sie die gebirgigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/66>, abgerufen am 29.06.2024.