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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Süden kamen die Römer und Türken, von Westen die Deutschen, von Osten
die Magyaren selber ins Land. Mehr als einmal wurde die begonnene
Culturentwicklung jäh unterbrochen, erst von den Magyaren, dann von den
Türken mit Vernichtung bedroht; nur deutschen Waffen verdankt Ungarn,
daß es noch existirt; ohne sie flimmerte vielleicht noch heute der Halbmond
über der Liebfrauenkirche zu Ofen.

Indeß -- meinen wir -- erstaunlich ist doch diese Entwicklung keines¬
wegs. Zunächst ist die eigentliche ungarische Tiefebene durchaus nicht sehr
lockend zur Niederlassung, wenigstens nicht für ein Ackerbauvolk. Widerstand¬
los rast über die weiten Flächen im Sommer der heiße Wind, im Winter
der schreckliche Schneesturm; torrente Sonnengluth und eisige Kälte spotten
jeder Voraussicht und jedes Fleißes. Wie mag hier ein Volk dauern, das
für den Bodenanbau vor allem günstige Bedingungen sucht? Nur Nomaden¬
stämme haben sich hier zu behaupten vermocht, und wenn der magyarische
Bauer seit wenigen Jahren zum Ackerbau übergegangen ist, so that er es
unter dem Zwange übermächtiger Umwälzungen und war des Klimas längst
gewöhnt. Ursprünglich ackerbauende Völker aber zogen rasch weg von diesen
unwirthlichen Steppen. Dieser Umstand scheint mir die Völkermischung Un¬
garns völlig zu erklären. Denn die Nomaden, welche die Pußten eroberten,
Hunnen, Awaren. Magyaren vermochten doch nicht in's Gebirge vorzudringen,
überließen dies vielmehr den Stämmen seßhafter Landbauern, die wiederum
ihrerseits nicht geneigt sein konnten, die schutzlose Ebene zu suchen.

Wenn dann Ungarn aus fast allen Himmelsrichtungen Eroberer über
sich hereinbrechen sah, so mag daran erinnert werden, daß Ströme, wie sie
im Süden das Land abschließen, niemals in dem Sinne, wie hohe Gebirge
trennen und schützen, und daß auch das höchste Gebirge des Welttheils
Italien vor Invasionen bekanntlich keineswegs geschirmt hat. Nach Westen
aber kann nur theilweise von einer Naturgrenze gesprochen werden; südlich
der Donau besteht nirgends eine scharfgezogene Grenzlinie, die Flüsse Ungarns
sind auch die Steiermarks und Kärntens und vor allem wälzt hier die
Donau ihre grauen Fluthen aus dem Innern Deutschlands heraus dem
Osten zu. Wer einmal diesen mächtigsten der westeuropäischen Ströme hinab¬
geschwommen ist, durch tannendunkle schweigende Engthäler hindurch, wo
am Ufer höchstens eine Fischerhütte steht, oder hoch oben ein Schloß ragt,
und dann wieder an niedrigen, bebuschten Auen und Ufern vorüber, zwischen
denen die glitzernde Wasserfläche sich in's Unendliche zu dehnen scheint, der
wird sich leicht die Empfindung vergegenwärtigen können, die in den Volks¬
stämmen an seinen Ufern lebte: das Streben aus dem Thal in die Ebene
und aus der Ebene in das Thal, immer weiter nach Osten. Von Westen,
von Deutschland her ist deshalb seit einem Jahrtausend der stärkste Einfluß


Grenzlwtcn ZM. 8

Süden kamen die Römer und Türken, von Westen die Deutschen, von Osten
die Magyaren selber ins Land. Mehr als einmal wurde die begonnene
Culturentwicklung jäh unterbrochen, erst von den Magyaren, dann von den
Türken mit Vernichtung bedroht; nur deutschen Waffen verdankt Ungarn,
daß es noch existirt; ohne sie flimmerte vielleicht noch heute der Halbmond
über der Liebfrauenkirche zu Ofen.

Indeß — meinen wir — erstaunlich ist doch diese Entwicklung keines¬
wegs. Zunächst ist die eigentliche ungarische Tiefebene durchaus nicht sehr
lockend zur Niederlassung, wenigstens nicht für ein Ackerbauvolk. Widerstand¬
los rast über die weiten Flächen im Sommer der heiße Wind, im Winter
der schreckliche Schneesturm; torrente Sonnengluth und eisige Kälte spotten
jeder Voraussicht und jedes Fleißes. Wie mag hier ein Volk dauern, das
für den Bodenanbau vor allem günstige Bedingungen sucht? Nur Nomaden¬
stämme haben sich hier zu behaupten vermocht, und wenn der magyarische
Bauer seit wenigen Jahren zum Ackerbau übergegangen ist, so that er es
unter dem Zwange übermächtiger Umwälzungen und war des Klimas längst
gewöhnt. Ursprünglich ackerbauende Völker aber zogen rasch weg von diesen
unwirthlichen Steppen. Dieser Umstand scheint mir die Völkermischung Un¬
garns völlig zu erklären. Denn die Nomaden, welche die Pußten eroberten,
Hunnen, Awaren. Magyaren vermochten doch nicht in's Gebirge vorzudringen,
überließen dies vielmehr den Stämmen seßhafter Landbauern, die wiederum
ihrerseits nicht geneigt sein konnten, die schutzlose Ebene zu suchen.

Wenn dann Ungarn aus fast allen Himmelsrichtungen Eroberer über
sich hereinbrechen sah, so mag daran erinnert werden, daß Ströme, wie sie
im Süden das Land abschließen, niemals in dem Sinne, wie hohe Gebirge
trennen und schützen, und daß auch das höchste Gebirge des Welttheils
Italien vor Invasionen bekanntlich keineswegs geschirmt hat. Nach Westen
aber kann nur theilweise von einer Naturgrenze gesprochen werden; südlich
der Donau besteht nirgends eine scharfgezogene Grenzlinie, die Flüsse Ungarns
sind auch die Steiermarks und Kärntens und vor allem wälzt hier die
Donau ihre grauen Fluthen aus dem Innern Deutschlands heraus dem
Osten zu. Wer einmal diesen mächtigsten der westeuropäischen Ströme hinab¬
geschwommen ist, durch tannendunkle schweigende Engthäler hindurch, wo
am Ufer höchstens eine Fischerhütte steht, oder hoch oben ein Schloß ragt,
und dann wieder an niedrigen, bebuschten Auen und Ufern vorüber, zwischen
denen die glitzernde Wasserfläche sich in's Unendliche zu dehnen scheint, der
wird sich leicht die Empfindung vergegenwärtigen können, die in den Volks¬
stämmen an seinen Ufern lebte: das Streben aus dem Thal in die Ebene
und aus der Ebene in das Thal, immer weiter nach Osten. Von Westen,
von Deutschland her ist deshalb seit einem Jahrtausend der stärkste Einfluß


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[0065] Süden kamen die Römer und Türken, von Westen die Deutschen, von Osten die Magyaren selber ins Land. Mehr als einmal wurde die begonnene Culturentwicklung jäh unterbrochen, erst von den Magyaren, dann von den Türken mit Vernichtung bedroht; nur deutschen Waffen verdankt Ungarn, daß es noch existirt; ohne sie flimmerte vielleicht noch heute der Halbmond über der Liebfrauenkirche zu Ofen. Indeß — meinen wir — erstaunlich ist doch diese Entwicklung keines¬ wegs. Zunächst ist die eigentliche ungarische Tiefebene durchaus nicht sehr lockend zur Niederlassung, wenigstens nicht für ein Ackerbauvolk. Widerstand¬ los rast über die weiten Flächen im Sommer der heiße Wind, im Winter der schreckliche Schneesturm; torrente Sonnengluth und eisige Kälte spotten jeder Voraussicht und jedes Fleißes. Wie mag hier ein Volk dauern, das für den Bodenanbau vor allem günstige Bedingungen sucht? Nur Nomaden¬ stämme haben sich hier zu behaupten vermocht, und wenn der magyarische Bauer seit wenigen Jahren zum Ackerbau übergegangen ist, so that er es unter dem Zwange übermächtiger Umwälzungen und war des Klimas längst gewöhnt. Ursprünglich ackerbauende Völker aber zogen rasch weg von diesen unwirthlichen Steppen. Dieser Umstand scheint mir die Völkermischung Un¬ garns völlig zu erklären. Denn die Nomaden, welche die Pußten eroberten, Hunnen, Awaren. Magyaren vermochten doch nicht in's Gebirge vorzudringen, überließen dies vielmehr den Stämmen seßhafter Landbauern, die wiederum ihrerseits nicht geneigt sein konnten, die schutzlose Ebene zu suchen. Wenn dann Ungarn aus fast allen Himmelsrichtungen Eroberer über sich hereinbrechen sah, so mag daran erinnert werden, daß Ströme, wie sie im Süden das Land abschließen, niemals in dem Sinne, wie hohe Gebirge trennen und schützen, und daß auch das höchste Gebirge des Welttheils Italien vor Invasionen bekanntlich keineswegs geschirmt hat. Nach Westen aber kann nur theilweise von einer Naturgrenze gesprochen werden; südlich der Donau besteht nirgends eine scharfgezogene Grenzlinie, die Flüsse Ungarns sind auch die Steiermarks und Kärntens und vor allem wälzt hier die Donau ihre grauen Fluthen aus dem Innern Deutschlands heraus dem Osten zu. Wer einmal diesen mächtigsten der westeuropäischen Ströme hinab¬ geschwommen ist, durch tannendunkle schweigende Engthäler hindurch, wo am Ufer höchstens eine Fischerhütte steht, oder hoch oben ein Schloß ragt, und dann wieder an niedrigen, bebuschten Auen und Ufern vorüber, zwischen denen die glitzernde Wasserfläche sich in's Unendliche zu dehnen scheint, der wird sich leicht die Empfindung vergegenwärtigen können, die in den Volks¬ stämmen an seinen Ufern lebte: das Streben aus dem Thal in die Ebene und aus der Ebene in das Thal, immer weiter nach Osten. Von Westen, von Deutschland her ist deshalb seit einem Jahrtausend der stärkste Einfluß Grenzlwtcn ZM. 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/65>, abgerufen am 28.09.2024.