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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Beobachtung von Land und Leuten, gründliche historische und ethnographische
Studien, und weiß stets lebhaft, oft glänzend zu schildern. Das alles macht
das Buch zu einer nicht blos lehrreichen, sondern auch sehr genußreichen Lectüre.

Seine Reise hat Löser so eingerichtet, daß er den Hauptstrom und die
Hauptstadt Ungarns, die weiten Ebenen der Pußten und die gewaltigen Ge-
birgsmassen der Karpathen, also alle Haupttheile des Landes mit Ausnahme
Siebenbürgens, aus eigner Anschauung kennen lernte. Er schwamm auf dem
Dampfer die Donau von Wien nach Pest hinab. durchflog die Pußten auf
der Eisenbahn von Pest über Czegled. Szolnok, Debreczin nach Nyiregyhäza
und erreichte die Karpathen bei Munkacs. Von dort bestieg er den hohen
Stoj, und setzte sodann seine Reise am Südrande des karpathischen Wald¬
gebirges über Unghvär nach Epenes, Kaschau und den Städten der Zips fort.
Nachdem er noch einen der höchsten Gipfel der Tatra, den Krivan, besucht,
gelangte er über den Tychipaß auf polnische Erde, nach Galizien.

Es giebt Länder, die von der Natur zum Sitze einer einheitlichen Natio¬
nalität und zum Schauplätze einer ungebrochnen, stetigen Culturentwicklung
berufen scheinen, und deren Geschichte genau das Gegentheil aufweist: bunte
Mischung der Stämme und die stärksten Erschütterungen. Unter allen Land¬
schaften innerhalb der natürlichen Grenzen Deutschlands giebt es keine, die
mehr eine physische Einheit bildete, als Böhmen, und doch ist das Land die
Heimat zweier tief verfeindeter Nationalitäten und seit Jahrhunderten die
Stätte eines erbitterten Nassenkampfes, zugleich furchtbarer kirchlicher Wirren
gewesen, hat auch seine Unabhängigkeit längst eingebüßt. In weit größerem
Maßstabe treten dieselben Erscheinungen in Ungarn auf. Im Westen, Norden
und Osten umzieht eine mächtige, vielgegliederte Gebirgsmasse das Flach- und
Hügelland der Donau und Theiß, während im Süden gewaltige Ströme, die
stets mehr Wallgraben als Culturstraßen gewesen sind, es von der Balkan¬
halbinsel scheiden. Und dieses ganze weite Rund wird beherrscht von einem
einzigen prachtvollen Strome, dem größten West-Europas, in den ringsum
die Gebirge ihre wasserreichen, größtenteils schiffbaren Zuflüsse senden. Ueppig
fruchtbar dehnt sich das Tiefland der Mitte, dichte, unerschöpfliche Waldungen
bedecken das Gebirge, reiche Metallschätze birgt sein Inneres. Und was lehrt
die Geschichte dieser Länder? Ein unaufhörliches Wogen und Drängen der
Völker ist über diesen Boden gegangen; seit hier die Römermacht, welche den
Südwesten und Südosten Ungarns mit starkem Arme behauptete, zusammen¬
brach, haben Germanen der verschiedensten Stämme, Slawen, Hunnen, Awaren,
Magyaren neben- und nacheinander ihre Sitze aufgeschlagen, bis schließlich
die Magyaren die Mitte, Slawen, Deutsche, Rumänen die Ränder festhielten.
Und dies Land, das so leicht zu vertheidigen scheint, ist von allen Seiten
her -- mit Ausnahme der Nordseite, von Eroberern heimgesucht worden: von


Beobachtung von Land und Leuten, gründliche historische und ethnographische
Studien, und weiß stets lebhaft, oft glänzend zu schildern. Das alles macht
das Buch zu einer nicht blos lehrreichen, sondern auch sehr genußreichen Lectüre.

Seine Reise hat Löser so eingerichtet, daß er den Hauptstrom und die
Hauptstadt Ungarns, die weiten Ebenen der Pußten und die gewaltigen Ge-
birgsmassen der Karpathen, also alle Haupttheile des Landes mit Ausnahme
Siebenbürgens, aus eigner Anschauung kennen lernte. Er schwamm auf dem
Dampfer die Donau von Wien nach Pest hinab. durchflog die Pußten auf
der Eisenbahn von Pest über Czegled. Szolnok, Debreczin nach Nyiregyhäza
und erreichte die Karpathen bei Munkacs. Von dort bestieg er den hohen
Stoj, und setzte sodann seine Reise am Südrande des karpathischen Wald¬
gebirges über Unghvär nach Epenes, Kaschau und den Städten der Zips fort.
Nachdem er noch einen der höchsten Gipfel der Tatra, den Krivan, besucht,
gelangte er über den Tychipaß auf polnische Erde, nach Galizien.

Es giebt Länder, die von der Natur zum Sitze einer einheitlichen Natio¬
nalität und zum Schauplätze einer ungebrochnen, stetigen Culturentwicklung
berufen scheinen, und deren Geschichte genau das Gegentheil aufweist: bunte
Mischung der Stämme und die stärksten Erschütterungen. Unter allen Land¬
schaften innerhalb der natürlichen Grenzen Deutschlands giebt es keine, die
mehr eine physische Einheit bildete, als Böhmen, und doch ist das Land die
Heimat zweier tief verfeindeter Nationalitäten und seit Jahrhunderten die
Stätte eines erbitterten Nassenkampfes, zugleich furchtbarer kirchlicher Wirren
gewesen, hat auch seine Unabhängigkeit längst eingebüßt. In weit größerem
Maßstabe treten dieselben Erscheinungen in Ungarn auf. Im Westen, Norden
und Osten umzieht eine mächtige, vielgegliederte Gebirgsmasse das Flach- und
Hügelland der Donau und Theiß, während im Süden gewaltige Ströme, die
stets mehr Wallgraben als Culturstraßen gewesen sind, es von der Balkan¬
halbinsel scheiden. Und dieses ganze weite Rund wird beherrscht von einem
einzigen prachtvollen Strome, dem größten West-Europas, in den ringsum
die Gebirge ihre wasserreichen, größtenteils schiffbaren Zuflüsse senden. Ueppig
fruchtbar dehnt sich das Tiefland der Mitte, dichte, unerschöpfliche Waldungen
bedecken das Gebirge, reiche Metallschätze birgt sein Inneres. Und was lehrt
die Geschichte dieser Länder? Ein unaufhörliches Wogen und Drängen der
Völker ist über diesen Boden gegangen; seit hier die Römermacht, welche den
Südwesten und Südosten Ungarns mit starkem Arme behauptete, zusammen¬
brach, haben Germanen der verschiedensten Stämme, Slawen, Hunnen, Awaren,
Magyaren neben- und nacheinander ihre Sitze aufgeschlagen, bis schließlich
die Magyaren die Mitte, Slawen, Deutsche, Rumänen die Ränder festhielten.
Und dies Land, das so leicht zu vertheidigen scheint, ist von allen Seiten
her — mit Ausnahme der Nordseite, von Eroberern heimgesucht worden: von


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[0064] Beobachtung von Land und Leuten, gründliche historische und ethnographische Studien, und weiß stets lebhaft, oft glänzend zu schildern. Das alles macht das Buch zu einer nicht blos lehrreichen, sondern auch sehr genußreichen Lectüre. Seine Reise hat Löser so eingerichtet, daß er den Hauptstrom und die Hauptstadt Ungarns, die weiten Ebenen der Pußten und die gewaltigen Ge- birgsmassen der Karpathen, also alle Haupttheile des Landes mit Ausnahme Siebenbürgens, aus eigner Anschauung kennen lernte. Er schwamm auf dem Dampfer die Donau von Wien nach Pest hinab. durchflog die Pußten auf der Eisenbahn von Pest über Czegled. Szolnok, Debreczin nach Nyiregyhäza und erreichte die Karpathen bei Munkacs. Von dort bestieg er den hohen Stoj, und setzte sodann seine Reise am Südrande des karpathischen Wald¬ gebirges über Unghvär nach Epenes, Kaschau und den Städten der Zips fort. Nachdem er noch einen der höchsten Gipfel der Tatra, den Krivan, besucht, gelangte er über den Tychipaß auf polnische Erde, nach Galizien. Es giebt Länder, die von der Natur zum Sitze einer einheitlichen Natio¬ nalität und zum Schauplätze einer ungebrochnen, stetigen Culturentwicklung berufen scheinen, und deren Geschichte genau das Gegentheil aufweist: bunte Mischung der Stämme und die stärksten Erschütterungen. Unter allen Land¬ schaften innerhalb der natürlichen Grenzen Deutschlands giebt es keine, die mehr eine physische Einheit bildete, als Böhmen, und doch ist das Land die Heimat zweier tief verfeindeter Nationalitäten und seit Jahrhunderten die Stätte eines erbitterten Nassenkampfes, zugleich furchtbarer kirchlicher Wirren gewesen, hat auch seine Unabhängigkeit längst eingebüßt. In weit größerem Maßstabe treten dieselben Erscheinungen in Ungarn auf. Im Westen, Norden und Osten umzieht eine mächtige, vielgegliederte Gebirgsmasse das Flach- und Hügelland der Donau und Theiß, während im Süden gewaltige Ströme, die stets mehr Wallgraben als Culturstraßen gewesen sind, es von der Balkan¬ halbinsel scheiden. Und dieses ganze weite Rund wird beherrscht von einem einzigen prachtvollen Strome, dem größten West-Europas, in den ringsum die Gebirge ihre wasserreichen, größtenteils schiffbaren Zuflüsse senden. Ueppig fruchtbar dehnt sich das Tiefland der Mitte, dichte, unerschöpfliche Waldungen bedecken das Gebirge, reiche Metallschätze birgt sein Inneres. Und was lehrt die Geschichte dieser Länder? Ein unaufhörliches Wogen und Drängen der Völker ist über diesen Boden gegangen; seit hier die Römermacht, welche den Südwesten und Südosten Ungarns mit starkem Arme behauptete, zusammen¬ brach, haben Germanen der verschiedensten Stämme, Slawen, Hunnen, Awaren, Magyaren neben- und nacheinander ihre Sitze aufgeschlagen, bis schließlich die Magyaren die Mitte, Slawen, Deutsche, Rumänen die Ränder festhielten. Und dies Land, das so leicht zu vertheidigen scheint, ist von allen Seiten her — mit Ausnahme der Nordseite, von Eroberern heimgesucht worden: von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/64>, abgerufen am 29.06.2024.