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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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lung man mit Schamröthe gedenkt, daß man von einem Wahlkreis im
Herzen Deutschlands spricht -- entrollten sich bei dem Wahlkampf im Leipziger
Landkreis, wo die Cigarrenmacher und Fabrikarbeiter des internationalen Be¬
kenntnisses sich um den fortschrittlichen Güterspeculanten Dr. Heine schaarten,
um den nationalen Candidaten Sparig zu verdrängen. Hier wurde an
wissentlicher persönlicher Verleumdung des durchaus makellosen Candi¬
daten der nationalen Partei das Undenkbarste geleistet. Man war auf dem
Niveau der öffentlichen Moral des Mississipi-Territoriums angelangt, wo kein
Präsident der Vereinigten Staaten wagen darf zu eandidiren, ohne den Vor¬
wurf einzustecken, daß er silberne Löffel gestohlen habe. Ein Wahlvorsteher
hieß die Maueranschläge für den nationalen Candidaten durch die Ortspolizei
abreißen und verbot, dieselben zu erneuern oder Stimmzettel für den Gegner
zu vertheilen. In eine von den nationalen berufene ruhige Wählerversamm¬
lung drang der sogenannte fortschrittliche Candidat selbst ein, an der Spitze
einer keineswegs nüchternen Rotte halbgewachsener Buben, und machte durch
deren wüstes Geschrei die Fortsetzung der Verhandlung unmöglich. Ja, ein
älteres Mitglied des Heine-Comite verschmähte es nicht, mit einem jüngeren
Fortschrittsfanatiker, der sich trunken stellte und für den Candidaten der
nationalen Partei ausgab, den soliden Abscheu entlegener Bauerndörfer
gegen den von den nationalen aufgestellten vermeintlichen Trunkenbold zu er¬
regen! Und das Resultat all dieser Kraftanstrengung: einige fünfzig Stimmen
Majorität für die "Fortschrittspartei", wobei die ganze Intelligenz des
Wahlkreises für den nationalen Candidaten stimmte.

Solche Scenen gehören im übrigen Deutschland, wenn sie dort jemals
heimisch waren, längst einer vergangenen Periode an. Ein Menschenalter
und weiter -- als die ersten politischen Kinderschuhe abgelaufen wurden -- liegen
sie dort zurück. Wir aber haben von der Aera Beust solche Erziehungsfrüchte
noch in unsere unmittelbare Gegenwart hinübergerettet. Es ist hart, in
solcher Gemeinschaft zu leben. Aber es muß gethan sein, um Wandel zu
schaffen für die Zukunft. Das Härteste aber ist die Wahrnehmung, daß auch
Organe, welche die Regierung bezahlt aus der Steuerkraft des Landes, dieß-
mal in die allgemeine Verbindung gegen die nationale Partei mit eintraten,
sich mit dem Dresdner Fortschritt und der Socialdemokratie verbrüderten um
die Wahl nationaler Candidaten zu hintertreiben.

Lange Zeit schien es, als wolle die officiöse Presse sich dießmal muster¬
hafter Unparteilichkeit befleißigen. Eine Coquetterie mit der reichsfeindlichen
Socialdemokratie vollends lag außer aller Vermuthung. Hatten doch alle
ehrlichen Deutschen, Alle, die etwas zu verlieren hatten, die Erfolge der So¬
cialdemokratie bei den vorjährigen sächsischen Reichstagswahlen noch in
frischer Erinnerung. Hatten doch alle nationalen Parteien, von den Cor-


lung man mit Schamröthe gedenkt, daß man von einem Wahlkreis im
Herzen Deutschlands spricht — entrollten sich bei dem Wahlkampf im Leipziger
Landkreis, wo die Cigarrenmacher und Fabrikarbeiter des internationalen Be¬
kenntnisses sich um den fortschrittlichen Güterspeculanten Dr. Heine schaarten,
um den nationalen Candidaten Sparig zu verdrängen. Hier wurde an
wissentlicher persönlicher Verleumdung des durchaus makellosen Candi¬
daten der nationalen Partei das Undenkbarste geleistet. Man war auf dem
Niveau der öffentlichen Moral des Mississipi-Territoriums angelangt, wo kein
Präsident der Vereinigten Staaten wagen darf zu eandidiren, ohne den Vor¬
wurf einzustecken, daß er silberne Löffel gestohlen habe. Ein Wahlvorsteher
hieß die Maueranschläge für den nationalen Candidaten durch die Ortspolizei
abreißen und verbot, dieselben zu erneuern oder Stimmzettel für den Gegner
zu vertheilen. In eine von den nationalen berufene ruhige Wählerversamm¬
lung drang der sogenannte fortschrittliche Candidat selbst ein, an der Spitze
einer keineswegs nüchternen Rotte halbgewachsener Buben, und machte durch
deren wüstes Geschrei die Fortsetzung der Verhandlung unmöglich. Ja, ein
älteres Mitglied des Heine-Comite verschmähte es nicht, mit einem jüngeren
Fortschrittsfanatiker, der sich trunken stellte und für den Candidaten der
nationalen Partei ausgab, den soliden Abscheu entlegener Bauerndörfer
gegen den von den nationalen aufgestellten vermeintlichen Trunkenbold zu er¬
regen! Und das Resultat all dieser Kraftanstrengung: einige fünfzig Stimmen
Majorität für die „Fortschrittspartei", wobei die ganze Intelligenz des
Wahlkreises für den nationalen Candidaten stimmte.

Solche Scenen gehören im übrigen Deutschland, wenn sie dort jemals
heimisch waren, längst einer vergangenen Periode an. Ein Menschenalter
und weiter — als die ersten politischen Kinderschuhe abgelaufen wurden — liegen
sie dort zurück. Wir aber haben von der Aera Beust solche Erziehungsfrüchte
noch in unsere unmittelbare Gegenwart hinübergerettet. Es ist hart, in
solcher Gemeinschaft zu leben. Aber es muß gethan sein, um Wandel zu
schaffen für die Zukunft. Das Härteste aber ist die Wahrnehmung, daß auch
Organe, welche die Regierung bezahlt aus der Steuerkraft des Landes, dieß-
mal in die allgemeine Verbindung gegen die nationale Partei mit eintraten,
sich mit dem Dresdner Fortschritt und der Socialdemokratie verbrüderten um
die Wahl nationaler Candidaten zu hintertreiben.

Lange Zeit schien es, als wolle die officiöse Presse sich dießmal muster¬
hafter Unparteilichkeit befleißigen. Eine Coquetterie mit der reichsfeindlichen
Socialdemokratie vollends lag außer aller Vermuthung. Hatten doch alle
ehrlichen Deutschen, Alle, die etwas zu verlieren hatten, die Erfolge der So¬
cialdemokratie bei den vorjährigen sächsischen Reichstagswahlen noch in
frischer Erinnerung. Hatten doch alle nationalen Parteien, von den Cor-


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[0525] lung man mit Schamröthe gedenkt, daß man von einem Wahlkreis im Herzen Deutschlands spricht — entrollten sich bei dem Wahlkampf im Leipziger Landkreis, wo die Cigarrenmacher und Fabrikarbeiter des internationalen Be¬ kenntnisses sich um den fortschrittlichen Güterspeculanten Dr. Heine schaarten, um den nationalen Candidaten Sparig zu verdrängen. Hier wurde an wissentlicher persönlicher Verleumdung des durchaus makellosen Candi¬ daten der nationalen Partei das Undenkbarste geleistet. Man war auf dem Niveau der öffentlichen Moral des Mississipi-Territoriums angelangt, wo kein Präsident der Vereinigten Staaten wagen darf zu eandidiren, ohne den Vor¬ wurf einzustecken, daß er silberne Löffel gestohlen habe. Ein Wahlvorsteher hieß die Maueranschläge für den nationalen Candidaten durch die Ortspolizei abreißen und verbot, dieselben zu erneuern oder Stimmzettel für den Gegner zu vertheilen. In eine von den nationalen berufene ruhige Wählerversamm¬ lung drang der sogenannte fortschrittliche Candidat selbst ein, an der Spitze einer keineswegs nüchternen Rotte halbgewachsener Buben, und machte durch deren wüstes Geschrei die Fortsetzung der Verhandlung unmöglich. Ja, ein älteres Mitglied des Heine-Comite verschmähte es nicht, mit einem jüngeren Fortschrittsfanatiker, der sich trunken stellte und für den Candidaten der nationalen Partei ausgab, den soliden Abscheu entlegener Bauerndörfer gegen den von den nationalen aufgestellten vermeintlichen Trunkenbold zu er¬ regen! Und das Resultat all dieser Kraftanstrengung: einige fünfzig Stimmen Majorität für die „Fortschrittspartei", wobei die ganze Intelligenz des Wahlkreises für den nationalen Candidaten stimmte. Solche Scenen gehören im übrigen Deutschland, wenn sie dort jemals heimisch waren, längst einer vergangenen Periode an. Ein Menschenalter und weiter — als die ersten politischen Kinderschuhe abgelaufen wurden — liegen sie dort zurück. Wir aber haben von der Aera Beust solche Erziehungsfrüchte noch in unsere unmittelbare Gegenwart hinübergerettet. Es ist hart, in solcher Gemeinschaft zu leben. Aber es muß gethan sein, um Wandel zu schaffen für die Zukunft. Das Härteste aber ist die Wahrnehmung, daß auch Organe, welche die Regierung bezahlt aus der Steuerkraft des Landes, dieß- mal in die allgemeine Verbindung gegen die nationale Partei mit eintraten, sich mit dem Dresdner Fortschritt und der Socialdemokratie verbrüderten um die Wahl nationaler Candidaten zu hintertreiben. Lange Zeit schien es, als wolle die officiöse Presse sich dießmal muster¬ hafter Unparteilichkeit befleißigen. Eine Coquetterie mit der reichsfeindlichen Socialdemokratie vollends lag außer aller Vermuthung. Hatten doch alle ehrlichen Deutschen, Alle, die etwas zu verlieren hatten, die Erfolge der So¬ cialdemokratie bei den vorjährigen sächsischen Reichstagswahlen noch in frischer Erinnerung. Hatten doch alle nationalen Parteien, von den Cor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/525>, abgerufen am 29.06.2024.