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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Meisterwerke aller Völker und Zeiten über. An die Vorlesung knüpften sich
oft anregende Gespräche und Betrachtungen. Im Winter von 1794 bis 1795
versammelte sich jeden Freitag ein Abendzirkel zum gemeinsamen Lesen der
Voßischen Uebersetzung der Ilias. Goethe wußte als Vorleser die Härten der
Uebersetzung zu mildern. Wieland und einige andere Herren lasen den grie¬
chischen Text nach und die übrigen Herren betheiligten sich an dem gemein¬
samen Gespräch. Auch wissenschaftliche Werke wurden bisweilen gemeinsam
gelesen. So lenkte der Besuch des ^ddo R^llÄl in Weimar (1782) die Auf¬
merksamkeit auf dessen nistoü-e MilosoxniyutZ äos Inäes und es bildete sich
eine Gesellschaft, welche wöchentlich dreimal zusammenkam, um R>g.Mg,I's Werk
zu lesen. Man nahm Landkarten dazu, und jeder trug zur Erklärung für
die Damen bei. So entstand in den gebildeten Kreisen Weimars der größte
Eifer, die bedeutendsten Werke der deutschen Literatur und die Meisterwerke
aller Völker und Zeiten kennen zu lernen. Bei der Großherzogin Amalie,
bei der Prinzessin Karoline, bet Goethe, bei der Frau von Stein, bei dem
Fräulein von Göphausen und in vielen anderen Kreisen wurde gelesen.

Die Poesie übte bedeutsamen Einfluß auf das gesellige Leben der Stadt;
man hielt sich seine Eigenheiten, Gewohnheiten und Unarten in Scherzge¬
dichten vor, welche eng,tin6hö genannt worden; man schrieb sich Briefe in
Versen. In den geselligen Kreisen wurden Gedichte gelesen und über Poesie
und Literatur gesprochen und viele Herren und Damen versuchten auch selbst
zu dichten. Sobald das öffentliche Leben ein freudiges Ereigniß brachte und
Veranlassung zum Dichten gab, erschien stets eine Menge Gedichte. Es hat
gewiß nie eine deutsche Stadt gegeben, wo so viel über Poesie gesprochen
und so viel gedichtet worden ist, als damals in Weimar. Denn außer den
großen Dichtern lebten damals in dem kleinen Weimar unverhältnißmäßig
viele Schriftsteller, Dichter und Dichterinnen: Sigmund von Seckendorf, von
Knebel, von Einsiedel, Bertuch, Musäus, Bode, Vulpius. Böttiger, Karoline
von Wolzogen, Amalie von Jmhof. Auch Minister Voigt beschäftigte sich
mit Poesie und dichtete, und auch die Prinzessin Karoline, die Herzogin
Amalie und Schillers Frau werden als Dichterinnen genannt. Zum Scherz
machten auch der Herzog Karl August, Frau von Stein und Fräulein von
Göphausen Verse. Als 1814 der Herzog aus dem Kriege nach Weimar zu¬
rückkehrte, strömten so viele Gedichte herbei, daß Goethe und Riemer die
Redaction übernahmen und die Gedichte der zwanzig verschiedenen Dichter in
einem Bändchen bei Bertuch gedruckt wurden. Ebenso ließ Goethe die bei
der Gründung der Bürgerschule von siebzehn verschiedenen Verfassern ge¬
machten Gedichte in einen Band zusammen schreiben.

Aber auch die übrigen Künste fanden damals Pflege und Förderung in
Weimar. Das neuerrichtete Zeicheninstitut verbreitete den Kunstsinn in wei-


Meisterwerke aller Völker und Zeiten über. An die Vorlesung knüpften sich
oft anregende Gespräche und Betrachtungen. Im Winter von 1794 bis 1795
versammelte sich jeden Freitag ein Abendzirkel zum gemeinsamen Lesen der
Voßischen Uebersetzung der Ilias. Goethe wußte als Vorleser die Härten der
Uebersetzung zu mildern. Wieland und einige andere Herren lasen den grie¬
chischen Text nach und die übrigen Herren betheiligten sich an dem gemein¬
samen Gespräch. Auch wissenschaftliche Werke wurden bisweilen gemeinsam
gelesen. So lenkte der Besuch des ^ddo R^llÄl in Weimar (1782) die Auf¬
merksamkeit auf dessen nistoü-e MilosoxniyutZ äos Inäes und es bildete sich
eine Gesellschaft, welche wöchentlich dreimal zusammenkam, um R>g.Mg,I's Werk
zu lesen. Man nahm Landkarten dazu, und jeder trug zur Erklärung für
die Damen bei. So entstand in den gebildeten Kreisen Weimars der größte
Eifer, die bedeutendsten Werke der deutschen Literatur und die Meisterwerke
aller Völker und Zeiten kennen zu lernen. Bei der Großherzogin Amalie,
bei der Prinzessin Karoline, bet Goethe, bei der Frau von Stein, bei dem
Fräulein von Göphausen und in vielen anderen Kreisen wurde gelesen.

Die Poesie übte bedeutsamen Einfluß auf das gesellige Leben der Stadt;
man hielt sich seine Eigenheiten, Gewohnheiten und Unarten in Scherzge¬
dichten vor, welche eng,tin6hö genannt worden; man schrieb sich Briefe in
Versen. In den geselligen Kreisen wurden Gedichte gelesen und über Poesie
und Literatur gesprochen und viele Herren und Damen versuchten auch selbst
zu dichten. Sobald das öffentliche Leben ein freudiges Ereigniß brachte und
Veranlassung zum Dichten gab, erschien stets eine Menge Gedichte. Es hat
gewiß nie eine deutsche Stadt gegeben, wo so viel über Poesie gesprochen
und so viel gedichtet worden ist, als damals in Weimar. Denn außer den
großen Dichtern lebten damals in dem kleinen Weimar unverhältnißmäßig
viele Schriftsteller, Dichter und Dichterinnen: Sigmund von Seckendorf, von
Knebel, von Einsiedel, Bertuch, Musäus, Bode, Vulpius. Böttiger, Karoline
von Wolzogen, Amalie von Jmhof. Auch Minister Voigt beschäftigte sich
mit Poesie und dichtete, und auch die Prinzessin Karoline, die Herzogin
Amalie und Schillers Frau werden als Dichterinnen genannt. Zum Scherz
machten auch der Herzog Karl August, Frau von Stein und Fräulein von
Göphausen Verse. Als 1814 der Herzog aus dem Kriege nach Weimar zu¬
rückkehrte, strömten so viele Gedichte herbei, daß Goethe und Riemer die
Redaction übernahmen und die Gedichte der zwanzig verschiedenen Dichter in
einem Bändchen bei Bertuch gedruckt wurden. Ebenso ließ Goethe die bei
der Gründung der Bürgerschule von siebzehn verschiedenen Verfassern ge¬
machten Gedichte in einen Band zusammen schreiben.

Aber auch die übrigen Künste fanden damals Pflege und Förderung in
Weimar. Das neuerrichtete Zeicheninstitut verbreitete den Kunstsinn in wei-


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[0512] Meisterwerke aller Völker und Zeiten über. An die Vorlesung knüpften sich oft anregende Gespräche und Betrachtungen. Im Winter von 1794 bis 1795 versammelte sich jeden Freitag ein Abendzirkel zum gemeinsamen Lesen der Voßischen Uebersetzung der Ilias. Goethe wußte als Vorleser die Härten der Uebersetzung zu mildern. Wieland und einige andere Herren lasen den grie¬ chischen Text nach und die übrigen Herren betheiligten sich an dem gemein¬ samen Gespräch. Auch wissenschaftliche Werke wurden bisweilen gemeinsam gelesen. So lenkte der Besuch des ^ddo R^llÄl in Weimar (1782) die Auf¬ merksamkeit auf dessen nistoü-e MilosoxniyutZ äos Inäes und es bildete sich eine Gesellschaft, welche wöchentlich dreimal zusammenkam, um R>g.Mg,I's Werk zu lesen. Man nahm Landkarten dazu, und jeder trug zur Erklärung für die Damen bei. So entstand in den gebildeten Kreisen Weimars der größte Eifer, die bedeutendsten Werke der deutschen Literatur und die Meisterwerke aller Völker und Zeiten kennen zu lernen. Bei der Großherzogin Amalie, bei der Prinzessin Karoline, bet Goethe, bei der Frau von Stein, bei dem Fräulein von Göphausen und in vielen anderen Kreisen wurde gelesen. Die Poesie übte bedeutsamen Einfluß auf das gesellige Leben der Stadt; man hielt sich seine Eigenheiten, Gewohnheiten und Unarten in Scherzge¬ dichten vor, welche eng,tin6hö genannt worden; man schrieb sich Briefe in Versen. In den geselligen Kreisen wurden Gedichte gelesen und über Poesie und Literatur gesprochen und viele Herren und Damen versuchten auch selbst zu dichten. Sobald das öffentliche Leben ein freudiges Ereigniß brachte und Veranlassung zum Dichten gab, erschien stets eine Menge Gedichte. Es hat gewiß nie eine deutsche Stadt gegeben, wo so viel über Poesie gesprochen und so viel gedichtet worden ist, als damals in Weimar. Denn außer den großen Dichtern lebten damals in dem kleinen Weimar unverhältnißmäßig viele Schriftsteller, Dichter und Dichterinnen: Sigmund von Seckendorf, von Knebel, von Einsiedel, Bertuch, Musäus, Bode, Vulpius. Böttiger, Karoline von Wolzogen, Amalie von Jmhof. Auch Minister Voigt beschäftigte sich mit Poesie und dichtete, und auch die Prinzessin Karoline, die Herzogin Amalie und Schillers Frau werden als Dichterinnen genannt. Zum Scherz machten auch der Herzog Karl August, Frau von Stein und Fräulein von Göphausen Verse. Als 1814 der Herzog aus dem Kriege nach Weimar zu¬ rückkehrte, strömten so viele Gedichte herbei, daß Goethe und Riemer die Redaction übernahmen und die Gedichte der zwanzig verschiedenen Dichter in einem Bändchen bei Bertuch gedruckt wurden. Ebenso ließ Goethe die bei der Gründung der Bürgerschule von siebzehn verschiedenen Verfassern ge¬ machten Gedichte in einen Band zusammen schreiben. Aber auch die übrigen Künste fanden damals Pflege und Förderung in Weimar. Das neuerrichtete Zeicheninstitut verbreitete den Kunstsinn in wei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/512>, abgerufen am 29.06.2024.