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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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welches man ihm zu erkennen gab oder nur merken ließ, sich selbst über den
Werth seiner Arbeit klar zu werden. Vergebens hatte Goethe wiederholt die
Regeln der Dichtkunst studirt, er war durch die Theorie nie zu einer klaren
Einsicht gekommen. Noch im Jahre 1797 schrieb er an Schiller: "Keine
Theorie giebt's, wenigstens keine allgemein-verständliche, keine^ entschiedenen
Muster sind da, welche ganze Genres repräsentiren, und so muß denn jeder
durch Theilnahme und Anähnlichung und viele Uebung sein armes Subjekt
ausbilden." Von den öffentlichen. Kritiken oder Recensionen hielt Goethe
nicht viel. Er schrieb an Schiller: "Von der übrigen deutschen Literatur
habe ich rein Abschied genommen. Fast bei allen Urtheilen waltet nur der
gute oder der böse Wille gegen die Person, und die Fratze des Parteigeistes
ist mir mehr zuwider als irgend eine andere Carrikatur." Goethe suchte sich
auch in Weimar über seine Dichtungen dadurch ein Urtheil zu bilden, daß er
dieselben wiederholt verschiedenen Personen und in verschiedenen Kreisen vorlas
und dann den Eindruck, welchen das Vorgelesene gemacht hatte, und die ver¬
schiedenen Aeußerungen der Zuhörer bei sich erwog und sorgfältig prüfte.
Er ging dann seine Arbeit nochmals durch und verbesserte dieselbe. Die
Vollendung, eines angefangenen Romans gab er auf, weil derselbe bei der
Vorlesung keinen Beifall gefunden hatte.

Wir erstaunen, wenn wir aus Goethe's Briefen erfahren, wie oft er
bisweilen eine und dieselbe Arbeit vorgelesen hat. Dem Herzog, den beiden
Herzoginnen, der Frau von Stein, Herder, Wieland, Knebel und anderen,
bald in größeren, bald in kleineren Kreisen las Goethe seine Arbeiten vor,
vertrauteren Freunden theilte er sie in Abschriften mit. Als Goethe zum ersten
Male seine gesammelten Schriften herausgab, ging er dieselben einzeln mit
Herder und Wieland durch. Seit seiner näheren, Bekanntschaft mit Schiller
hat Goethe nichts geschrieben, was er nicht vorher mit Schiller ausführlich
und wiederholt besprochen, Schillern vorgelesen oder in einer Abschrift vorge¬
legt hat. Auch seine noch nicht vollendeten Arbeiten besprach Goethe mit
seinen Freunden. Die Zuhörer äußerten ihre Gedanken und Erwartungen
über die Forsetzung, und diese Aeußerungen benutzte Goethe bei der weiteren
Ausarbeitung. Er schrieb an Schiller: "Es ist möglich, auf einem solchen
Wege diese Art von Arbeiten der Vollkommenheit näher zu bringen." Dem
Beispiele Goethe's folgten auch Herder und Wieland und kleinere Geister
und legten ihre Arbeiten, ehe sie dieselben drucken ließen, befreundeten Männern
zur Beurtheilung vor. Durch diese Mittheilungen, Vorlesungen und Besprech¬
ungen wurde der Sinn und Geschmack für Poesie in Weimar mächtig geweckt
und gehoben.

Von dem Vorlesen seiner eigenen Dichtungen ging Goethe zum Vorlesen
fremder Dichtungen, und zwar nicht nur deutscher Dichter, sondern der


welches man ihm zu erkennen gab oder nur merken ließ, sich selbst über den
Werth seiner Arbeit klar zu werden. Vergebens hatte Goethe wiederholt die
Regeln der Dichtkunst studirt, er war durch die Theorie nie zu einer klaren
Einsicht gekommen. Noch im Jahre 1797 schrieb er an Schiller: „Keine
Theorie giebt's, wenigstens keine allgemein-verständliche, keine^ entschiedenen
Muster sind da, welche ganze Genres repräsentiren, und so muß denn jeder
durch Theilnahme und Anähnlichung und viele Uebung sein armes Subjekt
ausbilden." Von den öffentlichen. Kritiken oder Recensionen hielt Goethe
nicht viel. Er schrieb an Schiller: „Von der übrigen deutschen Literatur
habe ich rein Abschied genommen. Fast bei allen Urtheilen waltet nur der
gute oder der böse Wille gegen die Person, und die Fratze des Parteigeistes
ist mir mehr zuwider als irgend eine andere Carrikatur." Goethe suchte sich
auch in Weimar über seine Dichtungen dadurch ein Urtheil zu bilden, daß er
dieselben wiederholt verschiedenen Personen und in verschiedenen Kreisen vorlas
und dann den Eindruck, welchen das Vorgelesene gemacht hatte, und die ver¬
schiedenen Aeußerungen der Zuhörer bei sich erwog und sorgfältig prüfte.
Er ging dann seine Arbeit nochmals durch und verbesserte dieselbe. Die
Vollendung, eines angefangenen Romans gab er auf, weil derselbe bei der
Vorlesung keinen Beifall gefunden hatte.

Wir erstaunen, wenn wir aus Goethe's Briefen erfahren, wie oft er
bisweilen eine und dieselbe Arbeit vorgelesen hat. Dem Herzog, den beiden
Herzoginnen, der Frau von Stein, Herder, Wieland, Knebel und anderen,
bald in größeren, bald in kleineren Kreisen las Goethe seine Arbeiten vor,
vertrauteren Freunden theilte er sie in Abschriften mit. Als Goethe zum ersten
Male seine gesammelten Schriften herausgab, ging er dieselben einzeln mit
Herder und Wieland durch. Seit seiner näheren, Bekanntschaft mit Schiller
hat Goethe nichts geschrieben, was er nicht vorher mit Schiller ausführlich
und wiederholt besprochen, Schillern vorgelesen oder in einer Abschrift vorge¬
legt hat. Auch seine noch nicht vollendeten Arbeiten besprach Goethe mit
seinen Freunden. Die Zuhörer äußerten ihre Gedanken und Erwartungen
über die Forsetzung, und diese Aeußerungen benutzte Goethe bei der weiteren
Ausarbeitung. Er schrieb an Schiller: „Es ist möglich, auf einem solchen
Wege diese Art von Arbeiten der Vollkommenheit näher zu bringen." Dem
Beispiele Goethe's folgten auch Herder und Wieland und kleinere Geister
und legten ihre Arbeiten, ehe sie dieselben drucken ließen, befreundeten Männern
zur Beurtheilung vor. Durch diese Mittheilungen, Vorlesungen und Besprech¬
ungen wurde der Sinn und Geschmack für Poesie in Weimar mächtig geweckt
und gehoben.

Von dem Vorlesen seiner eigenen Dichtungen ging Goethe zum Vorlesen
fremder Dichtungen, und zwar nicht nur deutscher Dichter, sondern der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/511>, abgerufen am 29.06.2024.