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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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hier ja maßgebend waren, oder in Baiern, in der Oberpfalz, in Steiermark,
Oesterreich, in den rheinischen geistlichen Staaten und sonst einen ganz neuen
Schwall von Bestechungsmitteln der Volksphantasie erfinden müssen, um diese
in seine Gewalt zu bringen, indem er sie ebenso roh und geistlos, wie er
selbst ist, machte. An die Vergangenheit war nicht anzuknüpfen, selbst wenn
hier nicht durch den ganz naturwüchsigen Abblätterungsprozeß seit 1530 alle
alt- oder ächtkatholische Tradition vollständig zerstört gewesen wäre. Heute
steht der h. Nepomuck zum mindesten auf jeder Brücke und auch sonst noch
an gar vielen andern Orten, um dem denkenden und geschichtskundigen Be¬
trachter jedesmal einige Schauer über die namenlosen Frevel an der deutschen
Volksseele einzujagen, die begangen werden mußten, ehe diese unheimliche Ge¬
stalt sich an das Tageslicht wagen durfte. Auch der Mariencultus steht hier,
wie überall, wo die Jesuiten gesiegt haben, in üppigsten Flor: die ältere
deutsche katholische Kirche hat von jenem Ueberschwange des Madonnencultus,
wie er sich bei den wälschen Franciskanern und überhaupt unter Leuten von
wälschen Blute und wälscher Phantasie zeigt, bekanntlich sehr wenig aufzu-
weisen, obgleich es seit dem 9. Jahrhundert, wo er zuerst sich hervorzuthun
beginnt, niemals an Versuchen gefehlt hat, ihn in seiner ganzen crasser Ueber-
reizung auch uns zu importiren. Erst dem 17. Jahrhundert ist es gelungen.
So hat das kleine Ländchen drei weitberühmte, angeblich von Hundertausen¬
den jährlicher Pilger besuchte >Gnadenorte der Himmelskönigin: Albendors,
dicht an der Felsenmauer der Heuscheuer-Wartha, am Eingang des Gebirgs-
spaltes, der die Pforte nach Schlesien oder zur Oder hin für die Neisse ist und
Maria Schnee auf dem Spitzberg, dem Glatzer Schneeberg gegenüber. Ragte
nicht dieser Berg einst noch anderhalbtausend Fuß über den Spitzberg hin¬
über, so würde er mit seiner Höhe von nahezu 3000 Fuß eine ganz stattliche
Figur in dem Bergkranze ringsumher spielen. Aber auch so ist Maria Schnee
eine landschaftliche Scenerie, für deren Zeichnung das abgebrochene "im höchsten
Grad romantisch" zwar nichts sagt, aber doch andeutet, daß es ein in seiner
Art einziges Bild ist. Das stattliche, aber nicht überladene oder anspruchsvolle
Kirchlein hart an der fast nadelförmig zugedrehten Spitze des darnach treff¬
lich benannten Berges, zu dem weder Fuhrwerk noch Reitthier, sondern bloß
der Fuß des Gläubigen oder des Touristen emporklimmen kann, die Rundsicht
hinunter in das breite, grüne Thal der Neisse bis zu den felsgehauenen Bur¬
gen und Citadellen der Landeshauptstadt, dahinter der blaue Kranz der Rand¬
gebirge, alle höher als 3000 Fuß in anmuthigster Schwingung der Linien
und reichster Gliederung; endlich fast mit den Händen zu greisen, der Berg¬
könig des Ganzen, der Schneeberg mit seinem kahlen Haupte und den kolos¬
salen Wäldern und Tiefschluchten an seinen Hängen, nur um weniges nie¬
driger als die Riesenkoppe selbst und den zehn oder zwölf Berggipfeln, die


hier ja maßgebend waren, oder in Baiern, in der Oberpfalz, in Steiermark,
Oesterreich, in den rheinischen geistlichen Staaten und sonst einen ganz neuen
Schwall von Bestechungsmitteln der Volksphantasie erfinden müssen, um diese
in seine Gewalt zu bringen, indem er sie ebenso roh und geistlos, wie er
selbst ist, machte. An die Vergangenheit war nicht anzuknüpfen, selbst wenn
hier nicht durch den ganz naturwüchsigen Abblätterungsprozeß seit 1530 alle
alt- oder ächtkatholische Tradition vollständig zerstört gewesen wäre. Heute
steht der h. Nepomuck zum mindesten auf jeder Brücke und auch sonst noch
an gar vielen andern Orten, um dem denkenden und geschichtskundigen Be¬
trachter jedesmal einige Schauer über die namenlosen Frevel an der deutschen
Volksseele einzujagen, die begangen werden mußten, ehe diese unheimliche Ge¬
stalt sich an das Tageslicht wagen durfte. Auch der Mariencultus steht hier,
wie überall, wo die Jesuiten gesiegt haben, in üppigsten Flor: die ältere
deutsche katholische Kirche hat von jenem Ueberschwange des Madonnencultus,
wie er sich bei den wälschen Franciskanern und überhaupt unter Leuten von
wälschen Blute und wälscher Phantasie zeigt, bekanntlich sehr wenig aufzu-
weisen, obgleich es seit dem 9. Jahrhundert, wo er zuerst sich hervorzuthun
beginnt, niemals an Versuchen gefehlt hat, ihn in seiner ganzen crasser Ueber-
reizung auch uns zu importiren. Erst dem 17. Jahrhundert ist es gelungen.
So hat das kleine Ländchen drei weitberühmte, angeblich von Hundertausen¬
den jährlicher Pilger besuchte >Gnadenorte der Himmelskönigin: Albendors,
dicht an der Felsenmauer der Heuscheuer-Wartha, am Eingang des Gebirgs-
spaltes, der die Pforte nach Schlesien oder zur Oder hin für die Neisse ist und
Maria Schnee auf dem Spitzberg, dem Glatzer Schneeberg gegenüber. Ragte
nicht dieser Berg einst noch anderhalbtausend Fuß über den Spitzberg hin¬
über, so würde er mit seiner Höhe von nahezu 3000 Fuß eine ganz stattliche
Figur in dem Bergkranze ringsumher spielen. Aber auch so ist Maria Schnee
eine landschaftliche Scenerie, für deren Zeichnung das abgebrochene „im höchsten
Grad romantisch" zwar nichts sagt, aber doch andeutet, daß es ein in seiner
Art einziges Bild ist. Das stattliche, aber nicht überladene oder anspruchsvolle
Kirchlein hart an der fast nadelförmig zugedrehten Spitze des darnach treff¬
lich benannten Berges, zu dem weder Fuhrwerk noch Reitthier, sondern bloß
der Fuß des Gläubigen oder des Touristen emporklimmen kann, die Rundsicht
hinunter in das breite, grüne Thal der Neisse bis zu den felsgehauenen Bur¬
gen und Citadellen der Landeshauptstadt, dahinter der blaue Kranz der Rand¬
gebirge, alle höher als 3000 Fuß in anmuthigster Schwingung der Linien
und reichster Gliederung; endlich fast mit den Händen zu greisen, der Berg¬
könig des Ganzen, der Schneeberg mit seinem kahlen Haupte und den kolos¬
salen Wäldern und Tiefschluchten an seinen Hängen, nur um weniges nie¬
driger als die Riesenkoppe selbst und den zehn oder zwölf Berggipfeln, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/500>, abgerufen am 29.06.2024.