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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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graphen es ihnen mit dem Namen Sudeten thun. Das eine wie das andere
setzt schon eine höher geschulte Abstraction des Sehens voraus, denn das ge¬
wöhnliche Auge, das dann auch dem Volksmund zum Führer dient, verliert
sich in einem unendlichen Gewirre von hin und herstreichenden Bergzügen, die
so stark individualisirt sind, daß sie ihre besonderen Namen, Jserkamm, Jser-
gebirge, Riesengebirge, Eule, Hochwald ze. mit Recht verdienen und im ge¬
wöhnlichen Leben nie als Theile "der Sudeten", sondern als selbständige Größen
ftguriren.

Neuerdings scheint sich mehr bei den norddeutschen Gästen als bet den
Einheimischen die Neigung herauszubilden, den Namen Riesengebirge im aus¬
gedehnteren Sinne zu gebrauchen, d. h. so weit, als die gewöhnlichen Streif-
züge dieses Touristen retchen. Hier geben die schwarzgelben Schlagbäume, die
ja noch immer ein großes und schönes Stück Schlesien von dem Hauptlande
absperren, ungefähr die Grenze, bis wohin diese neumodische Namensver¬
breiterung allenfalls gewagt wird. Das eigentliche Riesengebirge muß sich
denn als "Hochgebirge" seine Besonderheit zu wahren suchen.

Bei den Einheimischen will sich diese Nomenklatur nicht recht einbürgern,
in jedem Falle, wenn sie sich ihr auch anbequemen, kann man hören wie sie
das Riesengebirge in jenem weiteren Sinne scharf von dem Glatzer oder Glatzer
trennen - das erste, "Glatzer", ist vornehmer, das zweite in der Mundart be¬
gründet. Ueberhaupt frappirt es den Fremden, wenn er im Lande selbst
überall eine ganz populäre Scheidung zwischen Schlesien und der Grafschaft
Glatz machen hört.

Hat er doch in seinem geographischen Unterricht gelernt, oder kann es
aus jedem Hand- und Reisebuch lernen, daß "Glatz an der Reiße, starke
Festung, 10,000 Seelen im Regierungsbezirk Breslau. also in der centralsten
der drei Administrativabtheilungen Schlesiens liegt, und hier in Schlesien spricht
man von Glatz und der "Grafschaft" so wie von einer ganz selbständigen
Größe, die nur durch das vieldeutige "und" an die andere geschweißt ist.

Aber sobald man die eigentlichen natürlichen und geschichtlichen Verhält¬
hältnisse kennt, begreift sich die Grenzmarke, die das Volksbewußtsein zwischen
Schlesien und der "Grafschaft" aufgerichtet hat, als vollkommen berechtigt
und es liegt eben wieder ein gutes Stück jener Ignoranz, die auswärts über
alle schlesischen Zustände herrscht, darin, daß man von einer der merkwürdig¬
sten und in ihrer Art anmuthigsten Bildungen der Erdoberfläche, wie sie in
der nur einmal vorhandenen Stellung des Schlesischen und des Glatzer Landes
zum Vorschein kommt, keine Ahnung hat.

Hier nämlich scheint es die Natur darauf abgesehen zu haben, das, was
sie im Reiche der Mineralien, der Pflanzen und Thiere gelegentlich thut, näm¬
lich eine Zwillingsgestalt, die genaueste Wiederholung derselben formgebenden


graphen es ihnen mit dem Namen Sudeten thun. Das eine wie das andere
setzt schon eine höher geschulte Abstraction des Sehens voraus, denn das ge¬
wöhnliche Auge, das dann auch dem Volksmund zum Führer dient, verliert
sich in einem unendlichen Gewirre von hin und herstreichenden Bergzügen, die
so stark individualisirt sind, daß sie ihre besonderen Namen, Jserkamm, Jser-
gebirge, Riesengebirge, Eule, Hochwald ze. mit Recht verdienen und im ge¬
wöhnlichen Leben nie als Theile „der Sudeten", sondern als selbständige Größen
ftguriren.

Neuerdings scheint sich mehr bei den norddeutschen Gästen als bet den
Einheimischen die Neigung herauszubilden, den Namen Riesengebirge im aus¬
gedehnteren Sinne zu gebrauchen, d. h. so weit, als die gewöhnlichen Streif-
züge dieses Touristen retchen. Hier geben die schwarzgelben Schlagbäume, die
ja noch immer ein großes und schönes Stück Schlesien von dem Hauptlande
absperren, ungefähr die Grenze, bis wohin diese neumodische Namensver¬
breiterung allenfalls gewagt wird. Das eigentliche Riesengebirge muß sich
denn als „Hochgebirge" seine Besonderheit zu wahren suchen.

Bei den Einheimischen will sich diese Nomenklatur nicht recht einbürgern,
in jedem Falle, wenn sie sich ihr auch anbequemen, kann man hören wie sie
das Riesengebirge in jenem weiteren Sinne scharf von dem Glatzer oder Glatzer
trennen - das erste, „Glatzer", ist vornehmer, das zweite in der Mundart be¬
gründet. Ueberhaupt frappirt es den Fremden, wenn er im Lande selbst
überall eine ganz populäre Scheidung zwischen Schlesien und der Grafschaft
Glatz machen hört.

Hat er doch in seinem geographischen Unterricht gelernt, oder kann es
aus jedem Hand- und Reisebuch lernen, daß „Glatz an der Reiße, starke
Festung, 10,000 Seelen im Regierungsbezirk Breslau. also in der centralsten
der drei Administrativabtheilungen Schlesiens liegt, und hier in Schlesien spricht
man von Glatz und der „Grafschaft" so wie von einer ganz selbständigen
Größe, die nur durch das vieldeutige „und" an die andere geschweißt ist.

Aber sobald man die eigentlichen natürlichen und geschichtlichen Verhält¬
hältnisse kennt, begreift sich die Grenzmarke, die das Volksbewußtsein zwischen
Schlesien und der „Grafschaft" aufgerichtet hat, als vollkommen berechtigt
und es liegt eben wieder ein gutes Stück jener Ignoranz, die auswärts über
alle schlesischen Zustände herrscht, darin, daß man von einer der merkwürdig¬
sten und in ihrer Art anmuthigsten Bildungen der Erdoberfläche, wie sie in
der nur einmal vorhandenen Stellung des Schlesischen und des Glatzer Landes
zum Vorschein kommt, keine Ahnung hat.

Hier nämlich scheint es die Natur darauf abgesehen zu haben, das, was
sie im Reiche der Mineralien, der Pflanzen und Thiere gelegentlich thut, näm¬
lich eine Zwillingsgestalt, die genaueste Wiederholung derselben formgebenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/493>, abgerufen am 29.06.2024.