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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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lebendige und unmittelbare Bewußtsein der deutschen Nation nur als ein ziem¬
lich nebelhafter Begriff. Noch viel weniger als es den Schlestern bis etwa vor
30 -- 40 Jahren gemüthlich vorkam, außerhalb der Marken ihres Landes
"nach Sachsen" oder "Baiern", worunter noch heute im Volksmunde alles Mittel-
und Süddeutsche Land sich unterstecken lassen muß, zu reisen, ist es den West-
und Süddeutschen in den Sinn gekommen, aus bloßer Wanderlust ihre Schritte
nach diesem Lande zu lenken. Etwas mag dazu die in ganz Deutschland
namentlich aber im Süden und Westen grassirende Mode beigetragen haben,
die verlangte, daß man das Auge nur auf Paris und die dortigen Wunder
der Freiheit, des Geschmacks und der Bildung gerichtet hatte. Denn Paris
war doch und ist noch in mancher Beziehung die eigentliche Capitale für einen
großen Theil unseres deutschen Landes. Aber doch ebenso sehr ist jene völlige
Unkenntniß, jenes völlige Vergessen in Anschlag zu bringen, das seit dem Ab¬
lauf des Mittelalters, wo der engste Verkehr zwischen dem Osten und dem
übrigen Deutschland herrschte, Schlesien wie mit einer chinesischen Mauer ab¬
gesperrt hatte.

Wenn auch die neueste Phase der beinahe krankhaft übertriebenen Reiselust
hieran etwas geändert hat, so ist es doch nicht viel und für alle die ungezähl¬
ten Touristenschwärme von links d. h. westlich der Elbe her existirt Schlesien
noch nicht als programmmäßiges Reiseziel so wenig als damals, wo der noch
nicht so völlig wie heute zu Grabe getragene Rübezahl, der Kynast mit seinem
bösen Fräulein Kunigunde und die Naturwunder des Riesengebirges wie ein
Märchen aus Indien im deutschen Munde umhergetragen wurden, und in
der Phantasie großer und kleiner Kinder lebhaft zündeten.

Und doch würde jedes gebildete Auge hier vollste Befriedigung finden,
wo die Natur an dem östlichen Gebirgsgürtel Böhmens ohne Zweifel ihre
größten und originellsten Gestaltungen geschaffen hat. die ihr auf deutschem
Boden außerhalb des eigentlichen Alpenlandes möglich geworden sind. Male¬
risch im cracker Wort, sind freilich auch diese Riesengebirgslandschaften nur
sehr selten, aber alle unsere deutschen Mittelgebirge, einzelne Theile der Vo-
gesen, des Schwarzwaldes und des rheinischen Schiefergebirges ausgenommen,
leiden an demselben Gebrechen, wenn es eines ist. Denn die wirklich male¬
rische Schönheit einer Landschaft, d. h. ihre Anlage zu einem von Künstler¬
hand gestalteten eigentlichen Bilde, kann da sehr oft mangeln, wo das Auge
des gebildetsten Kenners durch den Reichthum, die Schönheit oder Anmuth
der Formen und Farben mit Recht in Entzücken geräth. Wir brauchen die
Gründe dafür dem Leser, der ja bei Bischer in die Schule gegangen ist, nicht
erst auseinanderzusetzen.

Es ist nicht schwer einen gewissen Gesamttypus dieser östlichen Gebirgs-
formen herauszufinden, der sie ebenso einheitlich zusammenhält, wie die Geo-


lebendige und unmittelbare Bewußtsein der deutschen Nation nur als ein ziem¬
lich nebelhafter Begriff. Noch viel weniger als es den Schlestern bis etwa vor
30 — 40 Jahren gemüthlich vorkam, außerhalb der Marken ihres Landes
„nach Sachsen" oder „Baiern", worunter noch heute im Volksmunde alles Mittel-
und Süddeutsche Land sich unterstecken lassen muß, zu reisen, ist es den West-
und Süddeutschen in den Sinn gekommen, aus bloßer Wanderlust ihre Schritte
nach diesem Lande zu lenken. Etwas mag dazu die in ganz Deutschland
namentlich aber im Süden und Westen grassirende Mode beigetragen haben,
die verlangte, daß man das Auge nur auf Paris und die dortigen Wunder
der Freiheit, des Geschmacks und der Bildung gerichtet hatte. Denn Paris
war doch und ist noch in mancher Beziehung die eigentliche Capitale für einen
großen Theil unseres deutschen Landes. Aber doch ebenso sehr ist jene völlige
Unkenntniß, jenes völlige Vergessen in Anschlag zu bringen, das seit dem Ab¬
lauf des Mittelalters, wo der engste Verkehr zwischen dem Osten und dem
übrigen Deutschland herrschte, Schlesien wie mit einer chinesischen Mauer ab¬
gesperrt hatte.

Wenn auch die neueste Phase der beinahe krankhaft übertriebenen Reiselust
hieran etwas geändert hat, so ist es doch nicht viel und für alle die ungezähl¬
ten Touristenschwärme von links d. h. westlich der Elbe her existirt Schlesien
noch nicht als programmmäßiges Reiseziel so wenig als damals, wo der noch
nicht so völlig wie heute zu Grabe getragene Rübezahl, der Kynast mit seinem
bösen Fräulein Kunigunde und die Naturwunder des Riesengebirges wie ein
Märchen aus Indien im deutschen Munde umhergetragen wurden, und in
der Phantasie großer und kleiner Kinder lebhaft zündeten.

Und doch würde jedes gebildete Auge hier vollste Befriedigung finden,
wo die Natur an dem östlichen Gebirgsgürtel Böhmens ohne Zweifel ihre
größten und originellsten Gestaltungen geschaffen hat. die ihr auf deutschem
Boden außerhalb des eigentlichen Alpenlandes möglich geworden sind. Male¬
risch im cracker Wort, sind freilich auch diese Riesengebirgslandschaften nur
sehr selten, aber alle unsere deutschen Mittelgebirge, einzelne Theile der Vo-
gesen, des Schwarzwaldes und des rheinischen Schiefergebirges ausgenommen,
leiden an demselben Gebrechen, wenn es eines ist. Denn die wirklich male¬
rische Schönheit einer Landschaft, d. h. ihre Anlage zu einem von Künstler¬
hand gestalteten eigentlichen Bilde, kann da sehr oft mangeln, wo das Auge
des gebildetsten Kenners durch den Reichthum, die Schönheit oder Anmuth
der Formen und Farben mit Recht in Entzücken geräth. Wir brauchen die
Gründe dafür dem Leser, der ja bei Bischer in die Schule gegangen ist, nicht
erst auseinanderzusetzen.

Es ist nicht schwer einen gewissen Gesamttypus dieser östlichen Gebirgs-
formen herauszufinden, der sie ebenso einheitlich zusammenhält, wie die Geo-


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[0492] lebendige und unmittelbare Bewußtsein der deutschen Nation nur als ein ziem¬ lich nebelhafter Begriff. Noch viel weniger als es den Schlestern bis etwa vor 30 — 40 Jahren gemüthlich vorkam, außerhalb der Marken ihres Landes „nach Sachsen" oder „Baiern", worunter noch heute im Volksmunde alles Mittel- und Süddeutsche Land sich unterstecken lassen muß, zu reisen, ist es den West- und Süddeutschen in den Sinn gekommen, aus bloßer Wanderlust ihre Schritte nach diesem Lande zu lenken. Etwas mag dazu die in ganz Deutschland namentlich aber im Süden und Westen grassirende Mode beigetragen haben, die verlangte, daß man das Auge nur auf Paris und die dortigen Wunder der Freiheit, des Geschmacks und der Bildung gerichtet hatte. Denn Paris war doch und ist noch in mancher Beziehung die eigentliche Capitale für einen großen Theil unseres deutschen Landes. Aber doch ebenso sehr ist jene völlige Unkenntniß, jenes völlige Vergessen in Anschlag zu bringen, das seit dem Ab¬ lauf des Mittelalters, wo der engste Verkehr zwischen dem Osten und dem übrigen Deutschland herrschte, Schlesien wie mit einer chinesischen Mauer ab¬ gesperrt hatte. Wenn auch die neueste Phase der beinahe krankhaft übertriebenen Reiselust hieran etwas geändert hat, so ist es doch nicht viel und für alle die ungezähl¬ ten Touristenschwärme von links d. h. westlich der Elbe her existirt Schlesien noch nicht als programmmäßiges Reiseziel so wenig als damals, wo der noch nicht so völlig wie heute zu Grabe getragene Rübezahl, der Kynast mit seinem bösen Fräulein Kunigunde und die Naturwunder des Riesengebirges wie ein Märchen aus Indien im deutschen Munde umhergetragen wurden, und in der Phantasie großer und kleiner Kinder lebhaft zündeten. Und doch würde jedes gebildete Auge hier vollste Befriedigung finden, wo die Natur an dem östlichen Gebirgsgürtel Böhmens ohne Zweifel ihre größten und originellsten Gestaltungen geschaffen hat. die ihr auf deutschem Boden außerhalb des eigentlichen Alpenlandes möglich geworden sind. Male¬ risch im cracker Wort, sind freilich auch diese Riesengebirgslandschaften nur sehr selten, aber alle unsere deutschen Mittelgebirge, einzelne Theile der Vo- gesen, des Schwarzwaldes und des rheinischen Schiefergebirges ausgenommen, leiden an demselben Gebrechen, wenn es eines ist. Denn die wirklich male¬ rische Schönheit einer Landschaft, d. h. ihre Anlage zu einem von Künstler¬ hand gestalteten eigentlichen Bilde, kann da sehr oft mangeln, wo das Auge des gebildetsten Kenners durch den Reichthum, die Schönheit oder Anmuth der Formen und Farben mit Recht in Entzücken geräth. Wir brauchen die Gründe dafür dem Leser, der ja bei Bischer in die Schule gegangen ist, nicht erst auseinanderzusetzen. Es ist nicht schwer einen gewissen Gesamttypus dieser östlichen Gebirgs- formen herauszufinden, der sie ebenso einheitlich zusammenhält, wie die Geo-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/492>, abgerufen am 29.06.2024.